Dasein im Gedicht

1950 schreibt Claudius den autobiografischen Text „Betrachtungen meines Lebens“, den er 1956 erweitert und mit einem neuen Titel versieht: „Dasein im Gedicht“. Gisela Claudius erwog nach Claudius‘ Tod eine Veröffentlichung, zu der es aber nicht gekommen ist. Wilhelm Katthage hat das Manuskript übertragen und den fragmentarischen Charakter beibehalten. Seine wenigen Kommentare stehen in eckigen Klammern und verweisen zumeist darauf, wo die im Text enthaltenen Gedichte in Gedichtbänden abgedruckt wurden.
Hier wird der Text erstmals veröffentlicht.

Hermann Claudius
Dasein im Gedicht
1956


Hadere nicht, ward dir ein Wunsch nicht erfüllt.
Immer bleiben die Götter dir heimlich gewillt.
Immer wissen die Ewigen besser als du,
was dir zu deiner Reise dient, deiner Ruh.
Immer über den Hügel dir voraus
wissen die Götter den heimlichen Weg nach Haus.

HermClaudius 1920

                                   alter Scherenschnitt mit Silberrahmen:
                                   Johann Matthias Claudius
I.
Als die Pracht des Orion und die Lieblichkeit des Siebengestirns am winterlichen Himmel zu steigen begannen, ward ich am 19. Oktober 1878 um fünf Uhr dreißig Minuten zu Langenfelde bei Altona geboren. Ich war das erste Kind der zweiten Ehefrau des Bahnmeisters August Claudius, der ein Enkel des „Wandsbecker Boten“ Matthias Claudius war. Meine Mutter Ida Cornelia geb. Francke entstammte einem alten Dithmarscher Bauerngeschlecht zu Wilster, davon einige Glieder es am Hofe zu Kopenhagen zu gewichtigen Ämtern gebracht hatten.
Das geruhsame Pastorengeschlecht der Claudier, das z.B. durch drei Generationen nacheinander das Pastorat Süderlügum inne hatte, war durch die Mutter des „Boten“ aus dem temperamentvollen Rats- und Kaufherrnstand der Lorck zu Flensburg um Einiges aufgelockert worden, was in meinem Vater noch lebendig war.

Gleich bei meiner Geburt kam das an den Tag. Er rühmte sich zwar überall seines Stammhalters und seiner blutjungen Frau, vergaß aber die Anzeige beim Gemeindevorsteher. Als er diesem alten Herrn danach im Dorf begegnete, rief er ihn an: „Hallo, Käselau! Sie wissen wohl schon. Ich hab einen Jungen. Und August Hermann soll er heißen wie ich!“
Wann der denn geboren sei, meinte Käselau.
„Am 19.“, erwiderte mein Vater.
„Zu späte Meldung, mein lieber Claudius. Kostet ‘n Daler courant-Buße.“
„Dummen Snack, Käselau. Wannehr dröff he denn baren wesen?“ — fragte mein Vater barsch und daher auf Platt, das aus seinem holsteinischen Herzen kam.
„Ja, wenn dat de 24. wesen wör, Herr Bahnmeester!“
„God, Käselau! Schriew he den 24.!“
Meiner Mutter zuhause sagte mein Vater nichts davon. Denn bis zu meiner Konfirmation feierten wir immer am 19. Oktober meinen Geburtstag mit Butterkuchen und Lichtern. Und als ich ins Präparandeum kam in der alten Hamburger ABC-Straße und vom gestrengen Herrn Direktor Ahlborg nach meinem Geburtstag gefragt ward und in alter Gewohnheit den 19. nannte, mich dann aber besann und verbesserte — meinte der Gestrenge kopfschüttelnd: „Und Sie wollen Lehrer werden und wissen nicht einmal genau, wann Sie geboren sind?“ Er hat das, glaube ich, während meiner ganzen Seminarzeit nicht vergessen. Denn er hatte ständig ein ironisches Lächeln im Gesicht, wenn er mich ansah.
Von meinem Geburtshaus, einem vierkantigen Barockbau an der Altona-Kieler Chaussee, wohnte etwas weiter längs der Bäcker Bruhn. Ich kann höchstens zwei Jahre gewesen sein, aber ich sehe deutlich immer noch den großen Türgriff aus Messing, den ich niederdrücken musste, um in den Laden und zu den Kuchen zu gelangen. Und dieser Türgriff war blitzeblank: De Klink, de Klink, de blanke Klink an Bäcker Bruhn sin Dör!
In ihrem achtundachtzigsten Lebensjahre erzählte mir meine Mutter, dass ich als dreijähriges Kind ihr beim Blumenpflücken tieftraurig eine Blume gezeigt habe, an der ein Tautropfen hing, wobei ich sagte: „ O — Bume weint“.
Von 1880-85 wohnten wir in Eidelstedt, das alle die vielen Jahre hernach, als wir Stadtmenschen geworden waren, in meiner Erinnerung mir das Paradies schlechthin bedeutete. Das kleine einstöckige Haus aus Rotstein mit einem Ziegeldach lag an der Bahnstrecke Altona-Kiel. Und die Eisenbahn, die also an unserm Häuschen hin und her vorüberfuhr, gehörte mit zu diesem Paradies, darüber mein Vater der Herr (ich hätte bald geschrieben der Herrgott) war. Denn das Haus war die Bahnmeisterei und mein Vater der Bahnmeister. Er kannte jeden Lokomotivenführer mit Namen und alle Tagelöhner, die bei uns aus- und eingingen. Dazu gehörte auch der dicke Wagner, der eines Morgens seine Lokomotive gerade vor unserm Hause halten ließ, herunterkletterte und meiner Mutter lächelnd einen großen Strauß Georginen über das Gartengitter reichte — nachdem er so lange und so zischend heißen Dampf aus seiner Maschine hatte sausen lassen, bis meine Mutter neugierig aus dem Windfang in den Garten hinausgetreten war.

Mit fünf Jahren machte ich meinen ersten Ritt. In dem gelben Stall zur Seite des Vorgartens stand unser Rangierpferd, der blonde Voss, dessen Pflege Peter Ploog überlassen war. Dieser, ein wortkarger Mann, hatte auf meine ewigen Fragen über seinen Voss als Antwort immer nur ein Brummen. Ich hatte ihn oft und oft gebeten, dass er mich reiten lasse. Und als ich wieder eines Nachmittags dabei stand, während er den Gaul striegelte, griff er mich um die Lenden und setzte mich — schwupp! — dem Pferd auf den warmen runden Rücken. Da saß ich, und Ploog ging in den Stall, irgendetwas zu holen. Ich fing an, den Voss an seiner Mähne zu zupfen, und — ich spürte es mitteninnen zwischen Wohl und Wehe — plötzlich trabte er mit mir los, aus dem Garten auf die Landstraße, die wie gewöhnlich menschenleer dalag. Es war auf einmal alles umher eine andere Welt, so dass ich vor lauter Überraschung das Schreien oder Weinen schier vergaß und weiterritt. So kamen wir an der alten Glashütte vorbei, wo zwei Glasbläser in ihren geschwärzten Jacken und Büxen vor dem Tor standen. Die lachten laut und riefen: „Kik, unse lüttje Bahnmeester!“ Dabei klatschten sie in die Hände, und Voss begann einen Trab, der mich hopsen machte, dass ich zu bölken anfing. Das wiederum verstand mein Gaul dergestalt, dass er seine Beine desto lebhafter setzte, bis wir, in das Luruper Moor eingebogen, mit einem Ruck stoppten. Beinahe wäre ich vornüber hinuntergestürzt, aber die treue Mähne hielt. Ich blieb heulend oben und heulte, bis mich zwei starke Arme von hinten packten und Peter Ploogs Bärenstimme wenig freundlich mich einen Dösbaddel schalt und von meinem stolzen Sitze herunterholte.
Dass der Gaul einfach im Moor eingesackt und darum stehen geblieben war, habe ich erst viel später erfahren, wenn mein Vater dieses erste Abenteuer seines Stammhalters vor irgendjemand, der zu Besuch da war, gebührend berichtete. Lange danach noch, wenn ich im Bett mein Abendgebet sprach, hatte der liebe Gott das Gesicht Peter Ploogs und dessen brummige Miene.
Von den Dorfkindern hielt unsere Mutter mich und meinen Bruder Matten, der gut zwei Jahre jünger war, fern. Wir — oder war ich es als Erstgeborener nur allein? — trugen sonntags blaue Sammetkittel mit weißen Spitzen, was uns den Spott der Dorfkinder eintrug. So kam ich denn auch mit meinem sechsten Jahr nicht in die Dorfschule, sondern fuhr an der Hand meiner Stiefschwester Paula mit unserer Eisenbahn tagtäglich nach Altona in den Kindergarten, den meine Tante Emma dort hielt. Wir stiegen am Schulterblatt aus, kletterten die ewig lange schwindlige Steintreppe nach der Parallelstraße hinab und gelangten über den Belle-Alliance-Platz (der Name war mir immer wie ein Stück Märchen) in die Heinestraße, an der damals nur kleine Gartenhäuser standen. In einem davon, das einen Vorbau mit geschwungenem Treppenaufgang hatte, der lauter bunte Glasfenster aufwies — tiefrot und kobaltblau und zitronengelb — und unter hohen schattigen Ulmen lag, wohnte Tante Emma. Für meine Gedächtnisausbildung war diese Zeit nicht schlecht. Wir mußten unzählige Fröbellieder singen und Gedichte aufsagen, wobei meine Tante Emma mich sehr vorzog. Es wurde nicht nur die Betonung eingeübt, sondern auch das Mienenspiel und die Gebärde. Bei einer Stelle — ich erinnere mich dessen deutlich -:
„Und ich sollt‘ des munteren Spieles mich freu‘n?“
mußte ich mit dem gestreckten Zeigefinger der rechten Hand auf meine Brust zeigen, die Augenlider fragend hochgeschlagen und dabei den Körper nach vorn neigen.
Die ganze Einrichtung blieb mir fremd, nur zu einem schwarzhaarigen Jungen, der Edu hieß, gewann ich eine Zuneigung, ohne welche meine Mutter mich wohl kaum das ganze Jahr nach der Heinestraße hingekriegt hätte.

Zwar war es noch etwas anderes, was mich wenigstens zu der Fahrt mit der Eisenbahn trieb. Das war das Fräulein von Thaden, das auch jeden Morgen mit der Bahn fuhr. Ich versuchte immer, das gleiche Coupée zu erwischen, in welches das Fräulein eingestiegen war, ohne dass meine Stiefschwester Paula es merken sollte, weshalb ich gerade dies und kein anderes Abteil besteigen wollte. Da saß ich dann und sah am liebsten von einer Ecke der Wagenbank aus dem Fräulein andächtig in das schmale feine Gesicht und wagte auch einmal, ihr in die veilchenblauen Augen zu gucken. Das aber durfte sie beileibe nicht merken. O, es war eine große Heimlichkeit, die ich in mir hätschelte.
Ich habe an anderer Stelle darüber geschrieben und diese Episode im Erzählersinne abgerundet. Wie aber diese allererste Liebschaft des sechsjährigen Knaben in Wahrheit ausgelaufen ist, das weiß ich heute nicht mehr.

Im Frühjahr 1885 haben wir Eidelstedt verlassen und sind in die große Stadt gezogen und wohnten weit ab von dem Erdboden auf einer Etage, wie solche Wohnung hieß, die gar keine Wohnung war. Und über uns wohnten andere Menschen, fremde Menschen, denen wir auf der Treppe begegneten. Und unter uns wohnte der Herr Pornhagen, dem das ganze Haus gehörte und, wie ich es mir dachte, auch die Menschen, die darin wohnten. Sie boten auch alle dem Herrn Pornhagen, wenn er mit seinem Sammetkäppi auf dem Kahlkopf an der Treppe seines Bierkellers lehnte und schmauchte, sehr höflich einen guten Tag.
Keiner sprach mehr von Eidelstedt und dem Windfang, vor dem Matten und ich uns aufgestellt hatten, wenn ein Zug heranbrauste, wo der dicke Wagner uns gekannt hatte und seine Lokomotive zischen ließ, wenn er vorbeikam. (Wir hielten unsern Stock stramm in den rechten Arm geklemmt, wie wir es von Bahnwärter Slöh an der Bahnschranke abgeguckt hatten. Nur zu der roten Fahne an dem Stock hatten wir es noch nicht gebracht.)
Der Umzug von Eidelstedt muß mir klüglich verschleiert worden sein. Ich weiß von keinem Abschied. Ernst und Guschi, die Nachbarskinder, waren einfach nicht mehr da. Und auch keine Hühner mehr und keine Kaninchen mehr und keine Tauben. Und kein gelber Stall mehr mit dem Voss und mit Peter Ploog-Brummbart.
Nur wenn mein lieber Onkel Eduard kam weither aus Meldorf, wo er eine Mädchenschule leitete, wagte er flüsternd zu sagen: „Armande, woll’n wir mal Steine in den Mühlenbek plumpsen lassen?“ Aber da war ja kein Mühlenbek mehr.
Ich glaube, dass es diese Entfremdung gewesen ist, die mich kränkeln machte. Im „Silberschiff“ und in „Armantje“ habe ich darüber geschrieben und über den alten Doktor Wolgast, der zwölf Kinder hatte und sich nicht mehr wusch und seine Haare um die Ohren hängen ließ, der mitten im Winter sein Jüngstes in einer Kräke (einem geringen Holzschlitten) bis über die Nase in Wolltücher eingewickelt, hinter sich her zog und es bei seinen Krankenbesuchen ruhig auf der Straße im Schnee stehen ließ, wo es friedlich eingeschlafen war, wenn er zurückkam.
Während solchen Krankseins entdeckte ich vom Bette aus das Wachsen der Eisblumen an der winterlichen Fensterscheibe. Ich sah Bäume entstehen und Palmen, Schlangen und rätselhafte Dinge, die keinen Namen hatten, wenn ich mir nicht selber einen ausdachte. Und das tat ich, weiß sie aber heute nicht mehr. Ich malte sie auch auf einem Stück Papier nach und hatte meine Freude daran und war wohl gern krank.
(Der leidende Körper macht die Seele wohl empfänglicher für kleine Dinge als in gesunden Tagen.) Damals erwachte in mir der Träumer, der vor allen Wirklichkeiten Angst hatte. Diese Angst begleitete den Knaben in die Eimsbütteler Schule des alten Herrn Walther mit dem wehenden Silberbart und saß neben ihm auf der Klassenbank, ob es die erste oder — wie oft im Kopfrechnen — die letzte war. In diese Angst einbegriffen waren die Lehrer Herr Siems und Herr Schütt und Herr Hinz und Herr Krönke und wie sie alle hießen, jene Lehrer, die den Schüler am liebsten in ein sprechendes Buch verwandelten, bei dem man nur die Seite aufzuschlagen brauchte, um das Verlangte zu haben.

[Foto: Die Lehrer meiner Schule Eimsbüttel, die ich von 1886-1894 besuchte. In der Mitte: Hauptlehrer Walter, an seiner rechten Seite Herr Mester, am andern Ende der Bank der kleine Herr Hinz, Herr Sierk der zweite von der linken Seite, rechts unterhalb Herr Siems, links schräg über ihm Herr Dabelstein.]

Aber da war auch der dicke Herr Mester. Er hatte immer ein gerötetes Gesicht und ein paar Warzen darin, die extra rot leuchteten. Sein Haarschwupp schwebte wie eine Sichel über seinem Haupte, und seine Augen kugelten fast aus ihren Höhlen, wenn er in Begeisterung kam. Und er kam leicht und oft in Begeisterung. Ich höre ihn heute noch Eichendorffs und Höltys Verse sprechen. Seine ganze Persönlichkeit, den wackelnden Haarschwupp eingerechnet, war dabei. Ich vergaß, dass ich in der Schule saß, und vergaß meine Angst oder fühlte sie doch nicht mehr und war wie ein vom Sturm aufgeregtes Wasser wellenauf und wellenab. Ohne den dicken Herrn Mester mit dem leuchtenden Gerstenkorn auf dem linken Auge wäre ich, meine ich, niemals ein Poet geworden. Er trägt die Schuld daran. Sehe ich ihn nicht deutlich vor mir und höre ich ihn nicht sagen, was er immer zu sagen pflegte, wenn er Ruhe haben wollte: „Woll’n mal hör’n!“

Von den Mitschülern ist mir der kleine Behrmann in Erinnerung geblieben. Er war an beiden Beinen geschient und wurde jeden Morgen in einer Art Kinderwagen von seiner erwachsenen rundlichen Schwester in die Schule gefahren. Er sah blass und hohlwangig aus und blickte aus alten Augen.
Ich muss ihn wieder und wieder mit starkem seelischen Anteil angesehen haben, denn ich könnte sein Gesicht noch heute zeichnen, so deutlich steht es vor mir. Wie viele frische und lärmende Knaben waren um mich unterwegs und auf dem Schulhofe — warum blieb mir gerade das Gesicht des armseligen kleinen Behrmann im Geiste getreu? Es lohnte sich wohl darüber nachzudenken.
Mit Hans Schwarting war es wieder etwas ganz anderes. Ich stieg, wenn ich es irgend möglich machen konnte, in den Pausen dicht hinter ihm die Treppen zu unseren Klassen hinauf und betrachtete seine prallen Waden und wünschte sie mir an den eigenen Leib, der es nur zu sehr mageren Beinen gebracht hatte. Das Schimpfwort „Storchbeen!“ klingt mir heute noch in den Ohren. Ich habe es oft hören müssen.
Ich weiß, dass ich in meinem gewohnten Nachtgebet den lieben Gott hinterher immer wieder um dickere Waden gebeten habe.
Die ersten Reime, die ich als Zehnjähriger verbrochen habe, galten Siegfried und Hagen und Brunhild und Roland und Barbarossa und Heinrich dem Löwen. Aber meine Angst vor der Wirklichkeit nahmen mir diese Verse auch nicht vom Herzen, so emsig ich auch darüber gesessen hatte. Und so blieb ich ohne Freunde als Einsamer.
Natürlich haben wir in der Wurmschen Terrasse, wo meine Eltern ein Dutzend Jahre gewohnt haben, Hund und Jäger und Indianer und Trapper gespielt. Aber lieber – – viel lieber war ich doch allein draußen auf dem Luruper Moor oder in den dichten Bahrenfelder Tannen. Die Bäume und die Tiere waren mir näher und ohne Zwiespalt und ließen mich so wie ich war gelten. Und ich sie – und gab ihnen besondere Namen, anders als sie üblich waren, und hatte meine Freude daran und sagte keinem davon.

Bis in die zwanziger Jahre bin ich auf solche Art der Einzelgänger geblieben, der seine Lieblingsstellen hatte und ihnen eine kindliche Treue bewahrte. Die hohe vierkantige Schwarzpappel zu Stellingen könnte davon erzählen. Aber sie steht heute nicht mehr. Ich bildete mir ein, dass hier ein Buntspecht und dort eine Blaumeise mich kannten und auf mich warteten. Und für Igel und Ringelnattern hatte ich eine besondere Anhänglichkeit, gerade darum, weil alle ihnen feindlich waren. Es war mir, als ob ich selber noch den Bäumen und Tieren zugehörte und die Erde und alles um mich her noch jung und im Wachsen war und geschwisterlich. Drei gute Jahrzehnte später sprach ich das einmal in dem folgenden Gedicht aus:
Ein grünes Zweiglein übers Wasser hin.
Ein Sonnenglitzern heimlich drunterher.
Mir wird so ruhesam in meinem Sinn,
als ob das holde Bild Erfüllung wär.
Ich stehe sinnend da: was ist es doch?
Und in mir wird es weit und still und klar,
als wüsste meine Seele, wie sie noch
in Blatt und Blüte einmal heimisch war. [Z 77]

So ist es kein Zufall, dass ich jahrelang ein großes Aquarium mit viel Mühe und Andacht betreut habe. Und erst die Bombennächte der Weltkriege haben mich davon vertrieben. Ich habe meine Makropoden in ihrem seidigen Schuppenkleid sehr lieb gehabt, aber doch war es noch ein Anderes als nur das Fischehalten. Es war die Gelegenheit des wachen Träumens vor dem Wunderbecken:
Der Mond hat ins Fenster gefunden.
Ich schaue in schlaflosen Stunden,
an euer Wasser gebogen,
wie ihr die gläsernen Wogen
durchgleitet in traumhaftem Spiele.
Wie weit sind wir Menschen vom Ziele.
Ich kaure nächtens im Hemde
hier. Alles dünkt mich Fremde.
Wer hing des Mondes Laterne
einsam unter die Sterne? – – [J 42]
– – – – – –

Wie deine Schuppen aufleuchten, kleiner Fisch,
in meiner Laterne Schein.
Wird es mit meiner Seele,
wenn Gott sie ansieht,
ebenso sein?

Gott — mich ergreift eine tiefe Scham
vor Deiner einfältigen Kreatur ohne Schuld.
„Adam, wo bist du?“ – – – „Herr, habe Geduld!“ [J 46]


Dies sind Gedichte aus meinen Mannesjahren. Dagegen zeigte sich das Schöpferische in mir zuerst in der Lust und Gabe zu zeichnen. Mein alter Vater hatte als gebürtiger Bauer immer eine Unruhe, wenn er uns auf der Straße wusste, wo uns doch so leicht etwas passieren konnte. Er brachte uns also Bleistifte und Papier mit und ließ mich und meine Brüder zeichnen. Auch die Anleitung dazu gab er uns. Es lag ihm in den Fingern, eine Kirche, ein Bauernhaus, eine Pappel, eine Linde, eine Tanne mit wenigen markanten Strichen hinzuwerfen, alles nach dem einen Schema, das er sich dafür angewöhnt hatte. Wir malten das alles getreu nach, saßen gebückt um den Tisch, und der Vater hatte seine Ruhe. Er gab auf unsere Malereien nichts und sah sie kaum an, aber die Mutter bewunderte, was gut geworden war. Sie regte auch an, es anders zu machen, was dem Vater nicht passte. Ich merkte bald, dass meine Mutter mich für einen besonderen Zeichenkünstler hielt, was meinen Eifer sehr anstachelte. Meine Mutter bewahrte auch manche Blätter auf und verglich sie miteinander. Ich kam mir recht wichtig dabei vor und träumte, ein großer Maler zu werden. Ich habe an anderer Stelle von Max Kolluhn erzählt, der einen Sommer lang mit mir in einer Klasse saß. Der konnte besser malen als ich. Das erkannte ich zuerst mit Neid, danach mit Zustimmung, die in helle Freundschaft umschlug, die einzige kurze Freundschaft, von der ich melden kann. Wir saßen durch viele Wochen in unserer Wohnstube eng aneinander und malten. Dabei geschah es — und das war wohl der heimliche Grund meiner Freundschaft zum Kolluhn — das ich selber immer weniger malte, vielmehr in Worten angab, was gemalt werden sollte, und was der kleine Kolluhn danach sofort ins Werk umsetzte und solange entwarf und änderte, bis es mir genug schien. Sein Malenmüssen war ihm so natürlich, dass er seine Unterordnung unter meine Wünsche gar nicht spürte, während ich mein kleines Herrentum heimlich genoss. Kolluhns plötzlicher Tod machte mich zwar in der Klasse vor den anderen wieder zum Alleinzeichner, warf mich aber, da das Malen mich nicht mehr befriedigte, auf das Wortemachen zurück. Nicht, dass ich damals schon Reime schrieb oder Geschichten, aber ich trug deren Anlauf in mir und spielte mit Worten wie mit Bällen. Doch dieses Ballspielen verbarg ich fast vor mir selbst.

Mit zwölf Jahren machte ich in einem Sommer zwei Liebschaften durch, Liebschaften eines Kindes. Wenn ich viel, viel später einmal in einem Gedicht gesagt habe, meine Seele habe eigentlich eine Blume werden wollen — damals war sie es, als sie an den Blicken der anmutzarten Lene und der kerngesunden Ida hing, und diese Augen ihr mehr waren als Sonne, Mond und alle Sterne. Mein Gott, wie habe ich beim Indianerspielen das Lasso geschwungen, wenn ich wusste, das Lenchen sah mir vom Fenster ihrer Wohnung zu. Und wie selig hielt ich den Apfel in meinen Händen, den mir die runde Ida abends lächelnd zugesteckt hatte. Und wie eine große Orgel tönte die Seele beim Einschlafen, wenn sie ihre Freude ausströmte in Wortkatarakten, die sich überstürzten. Und da war noch etwas anderes: Das war Siegfried Dammann. Ich war inzwischen 13 Jahre geworden und ging bei Herrn Sierck in die dritte Klasse. Und Dammann saß neben mir. Er las zuhause jene Groschenromane, auf die seine Mutter abonniert hatte. Es war just die Zeit, in der ich immer mehr vom Zeichnen zum Reimen gekommen war. Diese Liebes- und Abenteuerromane übelster Art (was ich damals natürlich nicht erkannte!) bekam ich von Siegfried Dammann während unserer Schulpausen Wort für Wort wiedererzählt. Es war, als ob der Erzählende sie selber erlebt habe, so lebendig war ihre Wirkung auf mich. Es war schlimm, wenn im Höhepunkt der Handlung die Glocke klingelte und die Pause zu Ende war. Da saß ich dann in der Rechen- oder Geschichtsstunde und war für alles taub, was der Lehrer vortrug und was er mich fragte. Ich dachte nur immer das Eine: wenn es doch erst wieder zur Pause läuten wollte! Diese erzählten Schauergeschichten haben damals meine Seele sicher in starke Bewegung gebracht. Dass sie mir aber nicht verderblich geworden sind, lässt mich nachträglich erstaunen. Oder sollte doch hier für manches Unerklärliche meines Lebens der verborgene Schlüssel liegen? Aber man soll den Schleier der Maja nicht lüften. Und diese Seiten wollen es auch gar nicht. Bis zu einer gewissen Grenze mag das Wort sich wagen. Dann steht es vor Gott und schweigt. So wird auf diesen Seiten zwischen den Zeilen manches Schweigen stehen.

Meine Mutter ist mit 90 Jahren gestorben und wäre ohne ihren Unfall vielleicht noch älter geworden, denn sie las noch mit innerem Anteil Sören Kierkegaard. Meiner Mutter war eine natürliche Lust zu reimen von Haus aus eigen. Während ihres Aufenthaltes im Matthias-Claudius-Heim zu Wandsbek in den Jahren um 1940 zeigte sie mir einen schmalen Band geschriebener Gedichte, die sie während ihrer Schwangerschaft mit mir, ihrem Erstgeborenen, verfaßt hatte unter dem Titel: Du meiner Schmerzen Kind. Das Büchel ist in der Bombennnacht Juli 1943 verbrannt.
Aber ein Gedicht aus den Jahren unserer äußeren Trennung aus dem Jahre 1926 überreichte mir nach dem Tode der Mutter ein Freund, dem sie es zu diesem Zwecke damals in die Hand gegeben hatte. Es ist dieses:

O trag wie eine Krone
Dein tiefes Herzeleid,
So hast du ausgerungen,
Dein Herze ist gefeit.

Und hat man dir genommen
Des Alters Sonnenschein,
Um heilig Recht betrogen,
Schließ in dir selbst dich ein.

So können dich nicht treffen
Verleumdung, Haß und Neid.
Hast alles überwunden.
Dein Herze ist gefeit.

Gehst ruhig deine Straße
Mit frei erhobnem Blick
Und trägst in deinem Herzen
Ein heimlich stilles Glück.

So trag wie eine Krone
Dein tiefes Herzeleid.
Dann hast du überwunden.
Stehst über Raum und Zeit.


Ida Claudius (1904/1908) 1912


Sie hat dabei während ihrer Ehe sieben Kinder geboren und groß gemacht unter so sehr eingeengten Verhältnissen, dass ihr die doppelten Kriegsjahre in dieser Beziehung gar nichts bedeuteten. Drei enge Stuben waren unser Lebensraum zuhause, wovon eine die „beste Stube“ hieß und nur an hohen Fest- und Geburtstagen und wenn Besuch da war benutzt wurde, und wo das Bild des „Wandsbecker Boten“ an der Wand hing und ein Spiegel mit gewelltem Goldrahmen. Da stand auch auf der Mahagoni-Eckkommode die geringe Bibliothek meiner Mutter: drei Goethebände in braunem Leder mit Goldschrift, Lyrikbände in grünem seidenartigen Einband und das bescheidene Büchlein aus der Wandsbecker Bücherei der Frau Rebecca: D.Martin Luthers Kleiner Catechismus für die Pfarr-Herren, Schul-Meister, Haus-Väter, Jugend und Kinder. Altona, zu bekommen bey J.S.Salomon, Buchbinder, am Rathhausmarkt no 91. Auf der Deckelrückseite stand mit dünner Schrift zu lesen: Zu Wandsbeck, d.1.Juni 1825, von Mama Claudius erhalten.

In allen übrigen Büchern meiner Mutter las ich auf der ersten Seite mit sorgsamer Hand geschrieben:
Seinem Idachen in Liebe Ihr Theodor.
Ich habe in späteren Jahren mehrmals den Anlauf genommen, hierüber Näheres zu erfahren, aber die Mutter lächelte und schwieg. So blieb es für meine Phantasie ein offenes Feld, ihre Märchen zu bauen.
Mit meinen Brüdern vertrug ich mich recht und schlecht. Ich hatte immer den Vorzug des Ältesten, auch beim Mittagessen. Meine Mutter hatte gewiss ihre Kinder alle gleich lieb, aber von mir erträumte sie irgendwie einen Wiederaufstieg ihrer Familie, deren einer vor gar nicht so langer Zeit noch Stadtmeister zu Schleswig gewesen war und sich ein reiches Barockhaus hatte bauen lassen.
Meinem Vater stak sein Bauerntum, das zu Quickborn durch Brand und Unverstand untergegangen war, überall im Wege, wo er als Stadtmensch fungieren sollte. Er fungierte eben nicht. Und so sank er als alter Mann zum Hilfsboten herab und musste seine müden Beine treppauf und treppab quälen. Aber sonnabends am Familientisch mit der weißen Decke und bei seiner lieben langen Pfeife erwachte sein altes Herrentum und brach in prächtigen Geschichten aus, die er gern und immer in derselben Art erzählte. Wir Jungens kannten diese Geschichten schon und saßen dabei und hörten gar nicht mehr richtig zu. Nur Matten kuschelte sich an Vaters Seite und lauschte immer wieder. Er allein stak hernach, als der Vater lange unter der Erde lag, noch voll von dessen Geschichten und erzählte sie genau ebenso.
Wenn unser Vater kein Geld mehr hatte oder es mochte ihn sonst etwas sehr bedrücken, so faltete er vor dem Einschlafen im Bette die knorrigen Hände und sprach mit seinem lieben Gott laut und ohne alle Umschweife wie mit einem großen Bruder, dem man alles anvertraut und von dem man weiß, dass er unser Herz kennt. Am Ende, als seine körperlichen Kräfte nicht mehr ausreichen wollten, griff er zur Flasche und kam oft angetrunken nach Hause. Für unsere Mutter ward dadurch die häusliche Not noch ärger. Ich habe den Vater dann und wann aus den Wirtschaften herausholen müssen. Und es waren bittere Wege, und der Vater verlor seine Würde und väterliche Gewalt. Das Zusammenschlafen mit ihm ward mir widerlich. Wir schliefen mit sechs Personen in einer kleinen Stube in drei Betten. Dennoch gilt, was ich als Fünfzigjähriger in einer Reihe plattdeutscher Gedichte, die jene Kinderzeit betreffen, geschrieben habe:
Ick leeg angstig int Bett.
Dar keem Vadder an de Dör ballern.
Ick hör sin dunen Wöör.
Ick krop ünner de Dek.
Mi weer’t, as wenn ick dörch dat Duster kek.

Dar stünn min Vadder grot,
smeet das Arbeitstüg ut sinen Schot
un stünn un süng,
dat de lütt Stuw meist darvun tersprüng.

He stünn un süng.
Un ick leeg un dröm mi in Slap.
Un min Vadder keem
– hö! — den Barg hendal as en Ridersmann.
Sin Sweert hüng em breet bian.
Un wat fladder, wat fladder sin Fahn! [T 74]

Das soll nicht bedeuten, dass mein Vater ein Trinker gewesen sei. Aber nach zwei guten Grogs kam er rasch in Stimmung, was gute Freunde auszunutzen verstanden. Mein Vater war eine bäurische Seele, die nach Wald und Wiese und Garten und Blumen und Haus und Hof verlangt. Auf unseren seltenen Spaziergängen, an denen noch seltener der Vater dabei war, blieb er plötzlich vor irgend einem Garten stehen und hob die Arme in heller Bewunderung in den Himmel und rief mit seiner tiefen Bassstimme: „Aber Kinder, Kinder! Seht doch die roten Rosen, die lieben, lieben roten Rosen!“ Oder er pries einen alten Baum, der am Wege stand und umarmte ihn fast vor Entzücken, während meine Mutter und wir Jungens schnell weiterstrebten, um an dem Aufsehen, dass die laute Verwunderung des Vaters auf der Straße anrichtete, nicht Anteil zu haben. Heute bringe ich selber Ähnliches fertig und begreife die Art des Vaters, die auch schon Ererbtes gewesen ist aus kindlicheren Tagen unseres Geschlechtes. Aber im Ganzen gesehen war dieser Hermann August Claudius, der Sohn des Johannes, an den des „Boten“ berühmter Brief gerichtet war, der gelernte Buchbinder und gewesene Bauer und erzwungene Bahnmeister und versunkene Bürogehilfe ein Original mit allen Stärken und Schwächen eines solchen.

Daher kam es, dass weder Vater noch Mutter noch ich, der Älteste und Vorgezogene, zu den kleinen Leuten unserer Umgebung passen wollten. Meine Mutter konnte sich nie dazu verstehen, selber einzuholen. Das musste ich tun. Und die Geschichte von der verlorenen Börse und dem Herrn Jesus gehört dahin. Sobald wir die Doppelreihe der hässlichen nackten Terrassenhäuser hinter uns hatten, in den Eppendorferweg oder gar in die vornehme Fruchtallee eingebogen waren, fiel alle Armseligkeit von uns ab. Und oft inmitten des Spielens mit den andern Knaben reckte ich auf einmal meinen Hals, als müsse ich über alle hinausragen. Es musste mir im Blute liegen, denn es war mir unbewusst, wie ich auch von den Marschkönigen der mütterlichen Ahnenreihe zu Wilster keine Kenntnis hatte. Ich weiß auch nicht, warum ich mit der Pferdebahn, welche vom Eimsbütteler Marktplatz bis zum Hamburger Rödingsmarkt fuhr, um die Wette lief. Diese Bahn wurde von zwei Pferden gezogen, die fortdauernd in einem gleichmäßigen müden Trab liefen. Das Geleise war einspurig. Der Wagen wurde durch ein heb- und wieder senkbares Schienenrad im Geleise gehalten. Der Kutscher machte prrr, wann und wo immer jemand auf der Straße ihm ein Zeichen gab. So hatte ich denn beim Wettlaufen Augenblicke genug, um zu verschnaufen. Bis zur Juliusstraße lief ich mit. Dort wurden die Gespanne gewechselt. Ich schlich mich in den großen Stall, wo Pferd neben Pferd in langer Reihe stand, und atmete begierig den warmen Dunst der Pferdeleiber ein. Mit einem der entgegenkommenden Wagen lief ich dann wieder nach Hause und berichtete große Dinge. Aber unsere enge Wohnung in der Terrasse hatte trotz ihrer Kakerlakenplage auch ihre Idylle. Die Hinterseite unseres Hauses ging auf einen geräumigen Hof hinaus, an dessen nördlicher Seite eine alte, schiefergedeckte und schon müde gewordene Scheune stand, die lange schon als Werkstatt gebraucht wurde. Jetzt war ein Tischler darin. Man hörte das Singen der Säge. Aber es kam nur dumpf aus dem alten Fachwerkgemäuer hervor. Zudem breitete eine gewaltige Ulme ihr gotisches Gezweige über das bucklige Dach und reichte mit ihren äußersten Blättern fast bis zu mir an meinen Ausguck. Da lag ich, auch als ich schon längst aus der Schule entlassen war, und ließ meine Augen umgehen. Auf der Südseite des Hofes, etwas ferner gerückt, war oben auf dem Dach eines Hauses ein großer Taubenschlag, der hart gegen den Himmel stand. Dort wohnte Rudl Hermann und jagte mit einem langen Staken, an dem ein blauer Wimpel wehte, seine hundert Tauben im Kreise. Ich kannte ihn gut und war auch schon da oben gewesen. Aber mit dem Wimpel jagen, das durfte nur er allein. Manchmal kletterte auch eine Katze in der Dachrinne der alten Scheune umher. Ja, in sommerlichen Mondnächten — ich hatte mich leise an das Fenster gestohlen — war es schier unheimlich, über die Dächer zu blicken. Es rauschte im Laub der alten Ulme. Ab und an schrie ein Kauz. Und gar, wenn nachts ein Gewitter aufgezogen war, konnte es nichts Herrlicheres und Umheimlicheres geben, als aus dem Fenster nach den Blitzen zu haschen, wenn sie sich in wundervoller Verästelung über den Himmel fraßen, auf eine Sekunde das Dasein der gezackten Wolken offenbarten und danach der Donner aufbrach, dass die Fensterbank unter mir erzitterte. Aber ich lag auch an faulen Nachmittagen dort am Fenster und träumte in die Stille und ließ es in mir auf und ab steigen und wusste selbst nicht was und fühlte mein Leben rinnen.

Manchmal kommen in meinen Jahren Kindheitserinnerungen so deutlich an mich heran, dass ich die Gestalten und Dinge leibhaftig vor mir sehe, als sollte ich sie aus ihrer Vergessenheit ins Leben zurückholen. Da ist der breitschulterige, etwas kurz geratene Schlachtermeister Langhagen an der Ecke des Eppendorferwegs, der fast herrisch hinter seiner Tonbank mit der dicken Marmorplatte stand und die Kunden bediente, als ob es im Grunde nur eine Gnade von ihm sei. Er griff auch nie selber zu dem Hackmesser, sondern hieß es den Blockgesell tun, der hinter dem gewaltigen Haublock in derber Lederschürze bereit stand. Aber als einmal ein kräftiger Ochse den Gesellen beim Abführen in den Schlachtraum ausgerissen war und auf die Straße rannte, stürmte ihm der Meister selber mit erhobenen Armen entgegen, griff ihn bei den Hörnern und ließ ihn nicht wieder los, bis ihn die Gesellen mit langen Stricken gefesselt hatten. Dann stand der Schlachtermeister Langhagen inmitten der angesammelten Menge wie ein König. Und da sehe ich den Bäcker-Obermeister, den kleinen kugelrunden Herrn Knost, dessen Laden so eng und niedrig war, daß er sich kaum darin umwenden konnte. Er wendete sich auch nicht gerne um. Aber seine Backware war sein Augapfel. Mein Vater sagte, es gäbe nur bei Knost richtige Theekuchen (ich muß hier das th schreiben, damit es ganz richtig sei!). Und auch mir liegt heute noch der süß-selige Geschmack dieser Theekuchen zwischen Zunge und Gaumen, wenn ich daran denke. Es war auch ein rundes, reizendes und immer lächelndes Fräulein hinter jenem Ladentisch, auf dem es immer nach Frischgebackenem duftete, deren Freundlichkeit für meinen Vater durchaus zu den Theekuchen und frühmorgendlichen Hamburger Rundstücken gehörte. Da rührten sich übergeschäftig in ihrem geräumigen Kartoffel- und Gemüsekeller Grünhöker Claus samt Frau und dem uralten Vater, dessen weißes Gesicht mir immer ein leichtes Grauen einflößte, sooft ich den Keller betrat. Und das war doch fast täglich ((denn meine Mutter holte niemals selber ein. Als ich in späten Jahren die Richtigkeit dessen erkannte, daß ihre Vorfahren, die Franckes, am Kopenhagener Hofe gewichtige Ämter inne gehabt hatten (wovon meine Mutter selten und wie von verklungenen Märchen erzählte), begriff ich ihre Haltung.)) Dieser Grünhöker Claus tat, als handle er eigentlich unter seiner Würde, wenn er Kartoffeln im Sieb abmaß oder Wurzeln oder Sellerie abwog. Weder er noch der Alte noch die Frau sprachen dabei ein Wort. Es paßte den meisten Käufern durchaus nicht, aber man wurde nirgend so schnell und sauber bedient wie eben bei den „übergeschnappten Claus“.

Die 72 Dreizimmerwohnungen in unserer Terrasse an der Eimsbütteler Chaussee Nummer 89 waren von Familien bewohnt, die gewiß nicht alle und zu jeder Zeit in absoluter Eintracht miteinander lebten. Aber dennoch gehörten sie zusammen. Wir, die Claudius, deren Mutter nicht einholte, selbst nicht, wenn die Fischfrau mit lautem Rufen: „Bütt! Frische Bütt! All lebennig! -“ über das Kleinkopfpflaster der Terrasse klöterte, nur die Claudius waren da eine Ausnahme und an falscher Stätte.
Das hohe und hochgefensterte Vorderhaus, darin auch der Eigentümer unserer Terrasse, Herr Wurm, im Hochparterre wohnte, bedeutete eine andere Welt. Als der Töpfer Lütje aus seiner Wohnung unter uns, Terrassenhaus Nummer drei, in jenes Vorderhaus umgezogen war, blieb das seinen ehemaligen Nachbarn unverständlich, ja, es galt ihnen als frevelhaft. Es gehörte sich für den Töpfer Lütje einfach nicht, im Vorderhaus zu wohnen. Und als er nach einem Jahre oder zwei wieder in seine alte Wohnung zurückzog, war alles beruhigt. Es konnte ja gar nicht anders kommen. Man fühlte in solchen Augenblicken den eigenen Frieden und gönnte den andern, die mehr hatten, den ihren. Es war noch eine alte Lebensweisheit, die von Rundung alles Lebens wußte.
Auch Herr Wurm, der Grundherr, wußte darum, und wenn ein armer Deubel eine nachhängende Miete schier gar nicht aufbringen konnte, so strich er sie, wenn auch mit einem Knurren. Dafür grüßte ihn aber auch jeder, wenn Herr Wurm alle vier Wochen einmal seine Terrasse inspizierend die zwölf Häuser auf und ab pilgerte, die dicke Zigarre zwischen den satten Lippen, ohne daß er wieder zu grüßen brauchte.
Mein Vater war ein kleiner dürrer Mann und konnte den Herrn Wurm, der trotz seines Namens groß und dick war, nicht leiden. Doch Herrn Wurms Rosen, die dieser mit Eifer und Stolz in seinem Vordergarten zog, sah mein Vater als seine eigenen an und ging zur Rosenzeit extra ein paar Minuten früher aus der Wohnung, um in Andacht den Duft der Wurmschen Rosen einzusaugen.
Er sah auch im Vorbei mit seinen altersmüden Augen flüchtig in das Schaufenster der Spielwarenhandlung von Trenner. Mein alter Vater schenkte von Herzen gern, aber sein schmaler Geldbeutel war dagegen, zumal es doch nicht zu umgehen war, daß man beim Glühwein-Möller an der Ecke der Margaretenstraße ab und an einkehrte, wenn es auch kein Rosenduft war, der die Luft drinnen schwängerte. Er tat dennoch dem gehetzten Büroläufer irgendwie wohl.
Einmal stand bei Trenner ein Speicher mit richtiger Winde und einem Stall darunter mit zwei Pferden, die richtig anzuschirren waren. Der Vater und ich wußten beide darum und schwärmten davon um so mehr, je weniger er unser eigen werden konnte. Im Grunde vermochte dieser Speicher samt Stall und Pferden und Geschirr uns gar nicht eigener zu werden, als er uns im Geiste schon war. Eines Tages war er dann fort. Wir phantasierten lange, wer nun wohl der Überglückliche sein möge und überließen uns einer schönen Traurigkeit.

Sonst gab es in unserer langen, menschenüberfüllten Terrasse Lärm und Aufregung genug. Wenn der bärenstarke Drechsler Dullbart an einem Sonnabend angetrunken nach Hause kam und seine Frau ihn aus Angst oder Ärger nicht in die Tür lassen wollte, so schlug er mit der Faust eine Glasscheibe der Parterrewohnung ein und kletterte durch das Fenster ins Haus, verprügelte seine Frau und zog sie an ihren langen dichten blonden Haaren über den Korridor auf die offene Straße. Die Frau stand seltsam schnell wieder auf den Beinen und schalt und rang die Hände dazu. Aber die Nacht mußte alles gut gemacht haben. Dullbart setzte die Scheibe am Sonntag morgen wieder ein und pfiff vergnügt vor sich hin.
Und da war der Maurer Blocker, ein Mann, der regelmäßig seine Arbeit tat und wenig sagte. Aber zu Zeiten packte es ihn. Dann hörten wir Jungs sein lautes Schelten. Es klirrte auch Geschirr. Wir liefen nach Haus Nummer fünf und warteten. Und dann gings los. Das Fenster ward aufgestoßen und Tassen, Teller, Töpfe oder was immer dem Tollgewordenen zwischen die Finger geriet, flogen im weiten Bogen auf das Straßenpflaster und zersprangen in tausend Scherben. Die große schlanke Frau stand am andern geschlossenen Fenster und sah stumm dem Spektakel zu. Ob es Trunkenheit oder Tollheit war – – unser Vater nannte es Dilirium tremens. Aber auch hier trat wieder Ruhe ein. Und an einem der nächsten Tage gingen Herr und Frau Blocker Arm in Arm in die Stadt und kauften neues Geschirr ein.
Daß an Sonnabenden oft hier oder dort die Kerle im Suff ihre Weiber verprügelten, war nichts Sonderliches. Wir hatten eine Zeit lang so einen Nachbarn. Meine Mutter klopfte dann mit dem Besenstiel gegen die Wand, was aber selten geholfen hat.
Ich muß hier meines Onkels Edu dankbar gedenken. Auf meiner kleinen Schlafkammer im Paradies zu Eidelstedt hatte ich mit ihm gelernt aufzuschauen und aufzuhorchen und stille zu sein. Onkel Edu erzählte mir auch die verwunschene Geschichte vom Kalif Storch. Und vielleicht war es ein Nachhall davon, wenn ich als zwölfjähriger Bengel die späte Dämmerung der Sommertage gar nicht abwarten konnte und ohne Jacke und Mütze und am liebsten auf dünnen Schuhen die lange Terrasse immer an den Mauern entlang zu rennen, so schnell meine Füße mich nur tragen konnten. Die Arme hielt ich waagerecht von mir gestreckt, den Kopf in den Nacken zurückgelegt, die Augen fast geschlossen. So rannte ich immer schneller und schneller mit leisem Auf- und Niederschwingen der Arme, bis der Augenblick kam, in dem ich glaubte, den Erdboden nicht mehr mit den Füßen zu berühren. Diese Empfindung währte immer nur den Bruchteil einer Sekunde, aber sie war mir eine Glückseligkeit, für die ich die nachfolgende Erschöpfung gern hinnahm. Und diese Glückseligkeit kehrte im Traum der Nacht oft wieder. Hoch über den Dächern schwebte ich hin wie ein großer Vogel. Aber in demselben Augenblick, in dem mir dieser Zustand bewußt ward, sank ich jählings ab, hart auf die Erde, erwachte und fühlte mein Herz laut klopfen. Einmal ließ ich mich verleiten, den Spielkameraden davon zu erzählen. Ich hätte es nicht tun sollen. Sie hänselten mich danach wochenlang. Die Träume blieben aus. Und auch das Schweberennen wollte mir nicht mehr gelingen. Ich hatte den Glauben daran verloren.

Ganz anders als mein Onkel Edu wirkte auf meine Entwicklung jener entfernte Onkel Otto Perthes aus Bielefeld ein, der dort am Gymnasium Professor war. Ein paar Wochen vor meiner Konfirmation stand der groß gewachsene Mann mit der Adlernase und der goldenen Brille auf einmal in unserer Stube und fragte, was ich werden wollte. Am nächsten Tag trat er in meine Schulklasse, die Selecta, und der gestrenge Herr Johannsen rief mich aus der Bank. Da stand ich zwischen den beiden Gewaltigen und mußte ein kleines Examen über ich ergehen lassen. Auch über den „Wandsbecker Boten“ wurde ich gefragt, wußte aber zu meiner Schande eigentlich nichts von ihm. Der Professor meinte, er wolle an seinem Teile dazu beitragen, dass der Name Claudius wieder zu Ehren komme, wobei ich das deutliche Gefühl hatte, dass mein Vater ihm zu gering dünkte. So kam ich mit seiner Unterstützung auf das Seminar, um Lehrer zu werden. Und dass ich kein Buchbinder geworden bin, wie mein Vater es gewollt hatte, das verdanke ich dem Onkel Perthes. Alles was er aber tat und so gut er es meinte, geschah in einer registrierenden Weise. Dennoch schien es nur so. Als ihm nämlich sein Exempel mit mir gelungen war — mit Gottes Hilfe, wahrhaftig! — und ich ihn im Jahre 1905 als Schulmeister zu mir in unsere Wohnung gebeten hatte (meine junge Frau Franziska hatte alles wohl bereitet, und der Kaffee gab einen anregenden Duft) und als er seine Fragenreihe, die er vom Zettel ablas, erledigt hatte, ward ihm langsam behaglich. Er schwatzte dies und das und lächelte und fragte zuletzt schalkhaft nach der „Geographie des Hauses“, womit er, was mir unerwartet war, das Klosett meinte. Ich wies ihn lächelnd dorthin und rief, als der liebe lange Professor die schmale Tür öffnete: „Bück dich, bück dich!“ Denn der Wasserkasten drinnen hing so niedrig, dass sich mancher Besucher schon den Kopf daran gestoßen hatte. Aber der lange Professor aus Bielefeld klappte wie ein Taschenmesser zusammen und kam heil zum Sitz.
In der „Heimkehr“ habe ich seiner gedacht und auch im „Armantje“.
Von meiner Seminarzeit ist es schlimm zu sagen, dass mir durch die sechs Jahre gerechnet keine einzige Stunde hell und freundlich und deutlich in der Erinnerung steht. Zwar war da der alte gutmütige Pappa Nissen, der von Notizblättern las und diktierte, die infolge ihres Alters bereits bräunlich geworden waren. Bei ihm ward ich immerhin wegen meiner Zeichnerei an der Tafel über Insektenbeine belobt. Dann war da der Zeichenlehrer Herr Hanebutt, der aber auch deutschen und anderen Unterricht gab und anstatt Mauern Mauren und anstatt Bauern Bauren sagte und sich darauf etwas zugute tat. Als er mit uns Johann Heinrich Voss „Luise“ las, brachten wir den heldisch-germanisch gewachsenen blonden Mann durch unsere dummdreisten Fragen so in Verlegenheit, dass er den Klassenraum verließ und die Tür hinter sich zuschlug.

Und da war der Direktor Dr. Ahlborg, dem jede Montagmorgenandacht nicht schnell genug ablief, weshalb er ständig beim Choralsingen einen Takt vorauf war und mitten im Nachspiel unseres Organisten zum Verlassen der Aula abwinkte. Gegen mich war er im letzten Semester besonders ungnädig, was ich zwar selber verschuldet hatte. Als ich nämlich — es war im Februar meines letzten Studienjahres — in jene Klasse trat, in der alle Examinanden zur Aufnahmeprüfung ängstlich beisammen saßen, ergriff mich ein Erbarmen, und schon hielt ich ein Stück Kreide in meiner Hand, und ebenso schnell war ein sauberes Schweinchen in Lebensgröße quer über die Tafel geworfen, wozu ich lachend den Ängstlichen zugewendet sagte: So was wünsch ich euch! Das muss man haben! Und siehe: die Mienen der meisten heiterten sich wahrhaftig auf.
Eine halbe Stunde danach — ich hatte den Vorfall mit den Examinanden längst vergessen — ward ich sofort zum Direktor entboten. Mit zorngeröteter Miene fuhr er mich an, ob ich die Schweinerei an der Tafel im Examinandenraum gemacht habe. Ich verstand den Zornausbruch des Direktors nicht, mußte aber zugeben, eine Zeichnung gemacht zu haben. Er polterte dann etwas von Unmoral und geistiger Unreife und endete damit, daß er mich hiermit relegiere. Ich möge meine Sachen packen und mich scheren.
Die Stunde läutete aus. Ich lief verstört zwischen den andern auf dem Korridor auf und ab, ohne auch nur ein Wort über die Lippen bringen zu können. Und so stand ich danach in der Geigenstunde, ungeachtet ich dort schon kein Recht mehr hatte zu stehen, und geigte und geigte gründlichst vorbei, dass der Kantor Köhler-Wümbach abklopfte und mich fragte, was ich da mache. Ich trat dicht an ihn heran und beichtete die ausgesprochene Relegierung. „Aber das ist doch eine Unverschämtheit, solche tollen Sachen, lieber Claudius- -“ – -„Es ist doch nichts als ein Glücksschwein, was ich zum Spaß – -“ Weiter kam ich nicht. Und nun stellte sich heraus, daß ein Unflätiger gemeine Zutaten der Skizze zugefügt haben musste. Köhler-Wümbach mit mir ins Direktorzimmer. Im Vorraum blieb ich zurück. Nach kurzer Zeit schon ward ich gerufen, der Direktor nahm in starrer Gerechtigkeit, die ihm eigen war, die Ausweisung zurück. Ich stand wieder draußen. Ich schritt mit dem Lehrer wieder treppauf in den Musiksaal zurück. Ich stand und geigte wieder. Und ich glaube, ich habe noch nie mit solcher Seeleninbrunst den Mozart gegeigt wie damals, als mir die Zentnerlast, sechs Jahre verspielt zu haben, vom Herzen genommen war.
Dem rundlichen Botaniker und Rostfleckenspezialisten Dr. Klebahn habe ich allein ein dankbares Gefühl bewahrt, denn er half mir beim Endexamen, dass ich in der Mathematik das „Genügend“ bekam. Sonst wäre ich durchgefallen. Und das war so gewesen:
Als Dr. Kl am Morgen des Endexamens mir auf dem Korridor vorbeiging, verriet er mir flüsternd, dass ich ein glattes Ungenügend in meiner schriftlichen Mathematikarbeit erhalten habe, was nur durch eine glatte Eins in der mündlichen Prüfung — also jetzt in wenigen Minuten — ausgeglichen werden könne und müsse, wenn ich bestanden haben wolle.
Ich muss ein sehr perplexes Gesicht gemacht haben, denn der liebe dicke Doktor, der mich als Botaniker schätzte und dem ich seine Fäulnispilze zu sammeln geholfen hatte, sah mich scharf an und flüsterte weiter: Sie kennen doch das retrograde Kontokurrent mit roten Zahlen — nicht wahr? Und ehe ich antworten konnte, war er weg und verschwunden.
Wie ein Blitz der Erleuchtung fuhr es mir durch mein zerquältes Hirn. Ich rannte zu Paul F., ließ mir alles, was er von dem verflixten Kontokurrent wusste, aufsagen, kritzelte etwas auf meine Manschetten und rezitierte den ganzen Lex ein Dutzend mal vor mich hin.
Eine Viertelstunde später saß ich auf der Prüfungsbank. Dr.Kl trat vor mich, meinte, daß ich ja im Schriftlichen auffallend Pech gehabt habe und er mir zur Rechtfertigung ein besonders heikles Thema geben müsse. „Sprechen Sie also über das retrograde Staffel-Kontokurrent mit roten Zahlen!“
Vor lauter Glücksgefühl vermochte ich kaum anzufangen, sprudelte dann aber meine eben erlangte Weisheit fehlerlos heraus und kam gar nicht erst damit zu Ende. Dr.Kl unterbrach mich mit einem lauten: Sehr gut! Sehr gut!
Mir aber saßen die Tränen der Dankbarkeit verräterisch zwischen den Wimpern, und ich durfte sie doch um alles in der Welt nicht merken lassen.
Der dünne Faden, an dem mein Schulmeistertum hing, war also zunächst wieder verknotet. Er sollte trotzdem nicht für immer halten.
Ja, das Damoklesschwert dieser Fünf in Mathematik schwebte mir alle sechs Jahre durch über dem Haupte. Es zwang mich, vom Französischen zurückzutreten und hernach auch vom Orgelspielen, das meine besondere Erquickung gewesen war. Es hat meinen Stil unselbständig gemacht. Ich war darin in der Selecta der Osterstraßenschule unter dem gestrengen Herrn Johannsen sicher gewesen und hatte immer meine blanke Eins unter den Aufsatz bekommen, auch, wenn — wie es einmal geschah — neunzehn orthographische Fehler darin vorkamen. Den Herrn P. — soll ich ihn nennen — er hat mir durch seine ironische Art oft und oft das Leben schwer gemacht. Es war seine Liebhaberei (am Ende war er vielleicht für die Stunde schlecht vorbereitet), irgend einen Schüler lächerlich zu machen. Und das traf meistens mich. Nach bestandenem Endexamen flog ich auf den Flügeln der Glückseligkeit nach Hause und konnte immer wieder nicht begreifen, dass nun aller Jammer vorbei sei. Meine Mutter fiel mir um den Hals, und mein Vater hatte dicke Tränen in seinen alten Augen.
Hatte ich während meiner Schulzeit immerhin doch einmal einen Freund gehabt, den kleinen Max Kolluhn, so war meine Seminarzeit davon leer. Da war zwar der dicke Paul Fischer, der mir treulich vor dem Beginn der Lektion beim Repetieren half, mit dem ich auch einen Heideausflug machte, mit dem ich auch in Poppenbüttel und Wohldorf war. Ich weiß noch, wie uns Mutter Witthöft in Wilsede (sie ist tot und der Hof ist niedergebrannt) für einen Tag Verpflegung mit Brot und Schinken und Setzmilch mit Zucker und Übernachtung sechzig Pfennig abnahm und uns fragend ansah, ob es auch zu teuer sei. Sie wies uns beim Abschied die Wegrichtung. Ich höre noch ihre gütige Stimme: „Dar jümmer grad ut, bet dat Koorn lett!“ Und der alte Schleusenwärter Schleu in Poppenbüttel ließ uns umsonst auf der Alster in seinem Boot schippern, solange wir Lust hatten, dafür aber mussten wir hinterher auch geduldig seine Geschichten anhören, die voller kleiner Gaunereien der Treideler steckten, die er duchzuschleusen hatte. Dabei sog er ausgiebig an seiner kurzen Pfeife, als ob seine Geschichten da drin steckten.
Als später der dicke Paul auf den Einfall kam, mit mir zusammen zu musizieren, da war es aus mit uns. Er kratzte zu sehr daneben

Ich habe schon früher erzählt, dass die Bahrenfelder Tannen und das Luruper Moor und die Vierkantpappel zu Stellingen mich für die mangelnden Freunde entschädigen mussten, und sie taten es reichlich. Auch die Sternbilder des abendlichen Himmels gehörten dazu: im Winter der funkelnde Orion und das flimmernde Siebengestirn und immer der Große Bär, die Kassiopeia und der Abendstern. Mehr noch galt mir der liebe Mond als Nachtgesell. Und an dieser Stelle muss ich nun allgemach meines Ahnen, des „Wandsbecker Boten“, gedenken. Heute gehört ihm meine ganze Liebe und Verehrung, und es erwärmt mich, mit ihm zusammen genannt zu werden. In jungen Jahren war ich nicht sein Freund. Denn überall, wo ich zuerst auftauchte, war i c h nicht ich, sondern immer der Urenkel des berühmten „Wandsbecker Boten“. Ich habe als Achtzehnjähriger an seinem Denkstein im Wandsbeker Gehölz gestanden, ohne jedes Gefühl der Verehrung, vielmehr mit einem bedrückten Herzen. Ich fühlte mich durch die Gestalt des Ahnen in meinem geheimsten Wesen bedrängt. Um ihn verstehen zu können, war ich damals dem Christusgedanken noch viel zu fern. Dazu: der Ahn war bei den Leuten, die ihn zu kennen meinten, immer nur der biederfromme Mann: Wir armen Menschenkinder sind eitel arme Sünder. Ich aber las damals Richard Dehmels Arbeiterhymnen und hatte Böcklins „Schweigen im Walde“ in meiner Stube hängen und war vom Darwinismus besessen. Die Welt war mir ein farbenleuchtendes Kaleidoskop, das nur der Schatten des Seminars zeitweise verdunkeln konnte. Ich vermochte in dem damals noch ragenden Borsteler Jäger vor einem Hummelschlupfloch zu liegen, das ich aufgespürt hatte, um das große pelzige Tier aus- und einfliegen zu sehen. Und an einer Niendorfer Feldmark saßen auf einem eichenen alten Hecktor lauter schillernde Graspferde, saßen flügelgebreitet und glitzerten in der Sommersonne, und ich verhielt mich baumstill, dem Augenblick hingegeben. Ich genoß diesen Frieden bewusst.
Durch den Seminarunterricht veranlasst, war ich einen Sommer lang auf Insektenfang ausgewesen, hatte die Tiere mit Spiritus abgetötet, mit langen Nadeln durchbohrt und sie sauber und systematisch auf Korkscheiben gespießt. Aber eines Tages, als ich einen der Kästen herausnahm, erkannte ich zu meinem Erschrecken, dass alle die Käfer und Fliegen und Libellen, die ich darin hübsch eingeordnet hatte, noch lebten und sich um ihre Nadeln drehten. Die Kästen flogen ins Feuer, und ich war geheilt.
Dass der „Wandsbecker Bote“ in seiner Art auch ein humoriger Gast seiner lieben Erde gewesen war, lernte ich erst viel später kennen.
Von den jungen Menschen meines Alters, die mit mir das Seminar besuchten, waren es Hugo K. und Arthur B., denen ich mich eine Zeit lang enger anschloss. Sie waren wohlgenährt und modisch gekleidet, während ich meinen hageren Körper unter einer Kleidung verbarg, die, wie ich wohl wusste, nicht für mich geschneidert worden war. Die beiden meinten es gut mit mir, nahmen mich in ihre Mitte und spazierten mit mir zusammen die abendliche Eimsbütteler Chaussee entlang, wo junges Volk unterwegs zu sein pflegte und einander neckte. Die beiden riefen gewagte Worte hinter ein paar Mädels her, die uns vorauf gingen. Die Mädchen kicherten. Ich verstand nicht alle diese Neckereien. Die Mädels kamen mir albern und ich selber kam mir alt vor und schwenkte bei der ersten Gelegenheit verdrossen ab.
Und dennoch fällt in diese Zeit meine Verliebtheit in das Hannchen, das eine Tochter der Freundin meiner Mutter war und sie Tante Ida nannte. Sie wohnte zu Wandsbek in einem weinlaubüberwucherten Häuschen, das mir bei unseren Besuchen dort gleich heimisch gewesen war und mich an das verlorene Paradies Eidelstedt erinnerte. Eines Tages hielt ich es nicht länger aus und eilte nach Wandsbek, das Hannchen zu sehen. Aber es war nicht da, sondern im Born hinterm Ochsenzoll weit draußen. Ich war auf keine lange Wanderung gerüstet, hatte weder Geld noch Brot mitgenommen, stiefelte aber trotzdem in nordwestlicher Richtung los und kam bei Dunkelheit richtig im Born an. Ich erfragte und fand, wo das Hannchen wohnte. Dorthin führte ein dunkler schmaler Tannenweg. Zur Seite war ein tiefer Graben, an dessen Wandung der seltsame Königsfarn seine hellgrünen Fächer breitete. Unter den letzten hohen Tannen stand das Häuschen, niedrig wie ein Hänsel- und Gretelhaus, ich konnte mit der ausgestreckten Hand den Rand des Rethdaches greifen. Durch das kleine aus lauter Scheibenvierecken zusammengesetzte Fenster sah ich drinnen in der engen Stube das Hannchen am Tische sitzen. Die Petroleumlampe brannte schon. Das Hannchen saß allein und strickte. So wagte ich es, ans Fenster zu klopfen. Erschrocken sah Hannchen auf. Es dauerte eine ganze Weile, ehe die Tür aufgemacht ward und eine Stimme durch den Spalt rief: „Wer ist da?“ Und dann war ich es und saß bald bei derselben Lampe neben dem lieben Mädchen und wusste nicht, was ich Kluges sagen sollte. Und das Mädchen auch nicht. Und so schwiegen wir.
Draußen rauschten die Tannen. Es war wunderschön. Schließlich fing ich doch an zu berichten, lauter Dinge, die mir im Grunde gleichgültig waren und dem Mädchen gewiss erst recht. Und so ging der Abend hin, bis die Eigentümer des Häuschens heim kamen, mich etwas fremd ansahen, aber zur Nachtruhe baten, nachdem ich an ihrem Abendbrot ohne alles Bedenken tapfer teilgenommen hatte.
Mehrere Tage war ich solcherweise mit dem Hannchen zusammen, aß und trank und schwatzte und schwieg, sah in ihre braunen glatten Haarscheitel und bewunderte ihre fleißigen flinken Hände – – und kam langsam immer weiter von ihr ab. Das spürte ich und ward tief unglücklich und begriff mich nicht und hatte böse Träume.
Endlich brachten mich die beiden Alten, Hannchen und ich gingen vorauf, auf den Heimweg. Sie kehrten in Hummelsbüttel bei Mutter Truelsen, in deren unmittelbarer Nachbarschaft heute mein Eschenhus steht, ein und ließen sich Taschentücher und Bändchen und allerlei anderes zeigen. Ich stand gelangweilt dabei. Dass ich als Lohn für die tagelange Bewirtung ihnen ein kleines Geschenk leisten müsste, daran dachte ich nicht im geringsten. Und so gingen wir draußen vor Mutter Truelsens grüner Ladentür mit sehr trockenem Abschied von einander.
Zuhause hatte meine Mutter inzwischen von meinem Abenteuer erfahren und war verstimmt, als ich ihren neugierigen Fragen auswich. Es waren danach sehr unglückliche Tage, an denen ich wirre Verse schrieb und gleich wieder zerriss. Das zierlich gezirkelte Näschen des Hannchen spielte da herein und ihr Falkenblick, aber mehr das düstere Rauschen der Tannen. Ich sah mich von allen Seiten auf mich selbst zurückgestoßen und wollte es nicht wahr haben und deckte es vor mir selber zu.
Es war gut für mich, dass ein glückliches junges Ehepaar aus meiner Mutter Verwandtschaft damals in meinen Lebenskreis trat. Der etwas kurzbeinige Mann hatte den wenig schönen Namen Louis, seine blasse Frau aber hieß Magda. Er sprach diesen Namen immer wie ein Gebet. Dieser überlustige Vetter Louis riß mich aus meiner Selbstverbissenheit dadurch, dass er alle Tierstimmen täuschend nachahmte. Das steckte mich an. Ich horchte abends auf den Amselruf und versuchte ihn wiederzugeben. Und es gelang mir. Nun gab es kein Aufhören mehr. Und wenn Vetter Louis und ich auf dem Hinterbalkon ihrer Wohnung, der auf das freie Feld hinausging, beisammen saßen, war das Vogelkonzert vollständig. Ich habe derzeit manches Buchfinkenmännchen durch meine Kunst in helle Eifersucht gebracht. Selbst vor den Kommilitonen, es war im letzten Seminarjahr, gewann ich durch diese Albernheit, die es doch im Grunde nur war, eine gewisse Geltung. Heute erkenne ich dankbar eine Führung und Bewahrung dahinter, die mir geschah.
Sie lag auch um die Gestalt des kleinen Doktor Zeckendorff, der durch zwanzig Jahre unser Hausarzt gewesen ist. Er brachte meiner Mutter eine große Verehrung entgegen, so spürbar, dass sich in mir, der in seine Mutter leise verliebt war, die Eifersucht regte. Ich weiß noch bis auf die lebhaften Bewegungen in dem runden blassen Gesichte des Arztes und bis auf das Aufblitzen seiner Augen hinter den Pincenezgläsern, wie er und die Mutter auf dem halbdunklen Korridor standen und miteinander redeten. Da rief ich ein Wort meiner unbewussten Eifersucht laut dazwischen und musste von meiner Mutter dafür einen langen und aufgeregten Verweis einstecken. Denn es blieb Wahrheit: ohne den Doktor Zeckendorff wären mein Vater und ich im Cholerajahr 1892 beide ein Opfer der Seuche geworden, wenn er uns nicht, entgegen einer strengen Vorschrift unangemeldet gelassen hätte, so dass meine Mutter uns im Hause behielt und durch ihre unerschrockene Pflege wieder auf die Beine brachte. Ich sehe noch die hundert langgeschwänzten Mäuse, welche meine Fieberphantasien über meine Bettdecke hasten ließen. Danach war der große Sonntagsbraten rätselsam, den ein Schlachter ins Haus brachte, ohne dass er bestellt war. Doch wir ließen ihn uns schmecken. Auch hatte der Doktor für meine kleinen Zeichnungen und Malereien Interesse und steckte dieses und jenes Blatt, das ihm besonders gefiel, mit einem feinen Lächeln in seine große rotlederne Brieftasche. Obwohl mir der Mann nicht lieb war, vermochte ich doch einen leisen Stolz darüber nicht zu unterdrücken.
Das häusliche Leben ging seinen steten Gang. Jeden Sonnabend gab es entweder Reis in Milch oder Mehlklöße in Milch oder Buchweizengrütze, wieder in Milch, letztere mit einem Löffel Syrup mitten auf den Grützeberg. Diese drei Gerichte verstand ich auch zu kochen und habe es oft getan, wenn die Mutter krank lag oder auf Besuch war. Sonntags gab es immer Kartoffeln mit Schüh und das übliche Beafsteak. Dieses hatte sein Geheimnis. Am Sonnabendabend lief ich nach der Lindenallee. Dort wohnte im Keller der Schlachter Oldenburg. Sein Schaufenster zeigte ein gemaltes springendes Rösslein. Mehr will ich nicht verraten. Uns schmeckte das Beafsteak gut, namentlich weil immer viel schön gebräunte Zwiebeln dabei waren. An jedem solchen Sonntag kam auch Paula, meines Vaters Tochter aus seiner ersten Ehe, und brachte einen Kranzkuchen mit zum Kaffee. Man nannte solchen damals Bismarckkranz, was mein Vater jedesmal beanstandete. An den vielen Geburtstagen innerhalb der Familie, sicher an denen der Eltern, gab es abends einen Punsch aus Rotwein und Zucker, mit einer Zitrone gewürzt. Solche Feiern dauerten oft bis in die Nacht, weil mein Vater nach dem dritten Glas zu königlichen Würden kam und seine Erzählungen mit ausgreifenden Gebärden vortrug und kein Ende fand. An meiner Mutter gingen diese Geschichten vorbei, ohne sie zu berühren. Sie hatte bald eine Häkelarbeit vorgenommen und wirkte schweigend daran. Wenn wir laut auflachten, worauf es mein Vater anlegte, ging höchstens ein leichtes Lippenkräuseln über meiner Mutter Gesicht.
Es stellte sich in diesen Jahren ein Freund des Hauses ein, der mit meinem Vater einmal in der Woche abends Schach spielte. Das alte Schachspiel stammte noch aus dem Sahmser Pastorenhause. Die Figuren waren aus Knochen geschnitzt, die eine Partie weiß, die andere rot, was lustig aussah. Auch waren die Springer richtige kleine Pferdchen mit hoch geschnellten Vorderbeinen und flatternder Mähne. Die Krone der Königin war ein mühseliges Durcheinander von Türmchen und Zieraten, und der König trug eine solche Krone gedoppelt. Ich wagte sie nur mit einer gewissen Scheu anzufassen. Beim Spielen, wobei ich oft zusah, rührte auch mein Vater den König selten an. Über die weiße Kuppel unserer Petroleumlampe wurde für solche Stunden ein grüner Papierschirm gelegt, so dass der grelle Lichtschein allein auf das Schachbrett fiel, die Gesichter der Spielenden aber in einen magischen Schein getaucht schienen. Mein Vater, der morgens in aller Frühe aufstehen musste, brach manchmal eine Partie ab und ging schlafen. Es war ihm — schien mir — nicht mehr besonders um das Spielen mit seinem Partner zu tun. Es ärgerte ihn, wenn der einen dummen Zug machte, und das tat sein gegenüber je länger, desto mehr.
Die Mutter, der Fremde und ich saßen danach oft noch sehr lange am Tische. Der Fremde erzählte in breiter und meinem Ohr zuletzt lästiger Art aus seinem bewegten Leben. Aber die Mutter hörte aufmerksam zu. Sie vergaß, dass ich noch am andern Tag für den Unterricht wach und frisch sein sollte, und so saßen wir zu dreien, und der Schwätzer hörte nicht auf. Auch er schien vergessen zu haben, dass ich noch da war. Wir wollen den magischen Schein des grünen Lampenschirms tiefer senken und alles von ihm einhüllen lassen, was mir heute noch wie ein schwerer Traum nachleuchtet, aus dem man nicht erwachen kann.

II.
Der Mann muss zum zweiten Male geboren werden. Und das wird er am Weibe.
Es galt von mir wohl besonders, dass ich in einer Umhüllung ging, von der ich zwar nichts wusste, die mich aber in meiner Art bewahrte und nur langsam erwachen und reifen ließ. Rückblickend sehe ich das mit einer Deutlichkeit, die mich erschauern macht und mir die Hände faltet.
Meine ersten Sommerferien als junger Lehrer verbrachte ich in Wohldorf, dessen Wälder mir schon aus Kindertagen bekannt und lieb waren. Ich wohnte bei Mutter Bock neben der alten Rammschen Schmiede am Nordhang des Waldes nahe der Aue. Meine beiden Brüder Ludwig und Paul hatte ich mitgenommen. Es war schon meine Art, nicht allein genießen zu können. Dass ich den fünfundsiebzigjährigen Vater anstatt dessen eine endliche Pause in seinem ewigen Alttagsmühen hätte vergönnen müssen, das kam mir damals nicht in den Sinn.
Wir drei Brüder saßen mit an der Table d‘hôte und recht verlegen zwischen den älteren Männern und Frauen. Wir kamen oft zu spät zu Tisch, weil wir zu tief in den Wald gepilgert waren und zu viel zu sehen und zu untersuchen gewesen war. So ging uns oft die Vorspeise verloren, was den übrigen Gästen gewiss völlig unverständlich war. Denn um des guten Essens willen waren sie ja da. „Schmier doch dicker Butter auf, Emilie! Du bist doch nicht zuhause!“ Dieses Wort habe ich bis heute behalten, und es war eine vornehm ausschauende Dame, die es aussprach. Wir waren überhaupt das Entsetzen der ganzen Tafelrunde, weil wir immer irgend etwas Lebendiges aus dem Walde mitbrachten als z.B. eine Ringelnatter, deren Harmlosigkeit uns vertraut war, vor der aber die Tafelrunde in heillose Angst geriet und nicht eher beruhigt war, bis wir das Tier wieder weit weg gebracht hatten. Ja, eigentlich sollten wir es totschlagen. Eine echte Kreuzotter, die wir lebendig im aufgespannten Regenschirm vorwiesen, erkannte keiner, was uns ein heimlicher Spaß war. Luten griff sie hinter dem Kopfwirbel und hielt sie lächelnd in der Hand. Wir töteten auch diese Schlange nicht und sahen sie eilig ins Dickicht hasten, nachdem wir sie wieder freigelassen hatten.
Danach mußten die Brüder fort. Ich blieb allein. Und da geschah es. Nämlich die dunkelhäutige Frau Maria warf ihren warmen Blick auf mich Einundzwanzigjährigen. Und dieser Einundzwanzigjährige ward davon entzündet. Er langte zum ersten Male durch die Hülle, die ihn verschleiernd behütet hatte, hindurch, wenn auch noch halb traumhaft. Er saß neben der Maria. Er schritt neben ihr durch den grün schattenden Wald. Er begleitete sie an einem abendspäten Dorfgang. Sie legte ihren Arm in den seinen. Er küsste sie. Das war noch gar nicht der Mann, der da geküsst hatte. Es war nur die symbolische Lösung seines innern Überschwanges. Und dennoch war es die zweite Geburt dieses Menschen, aus seiner Not entstand ein erstes wirkliches Gedicht:
Es küsset sich ihr roter Mund
doch gar so wunderbar.
Es fühlet sich so lockend weich
ihr rabenschwarzes Haar.
Ihr Blick entzündet stets aufs neu
zutiefst das Herze mein.
Doch weh des immer bittern Hohns:
Tor, sie wird nimmer dein.

[hier eine leicht geänderte Fassung gegenüber dem Mspt 1950: BL 5]

Und in einer Morgenfrühe entstand inmitten des Wohldorfer Waldes jenes andere Gedicht:
Dem Waldesrauschen hab ich gelauscht,
wenn der Sturm in seinen Wipfeln rauscht
mit allgewaltigen Schwingen.
Ich stand im Walde, als alles schwieg,
eh noch die Sonne am Himmel stieg,
die Vögel noch mochten singen.

Wald, sing mir noch einmal dein Wiegenlied,
dass Ruh in meinen Busen zieht,
der nimmer ruht und rastet!
Umfang noch einmal mit deiner Ruh
den raschen Geist, der immerzu
nach ihrem Bild nur hastet.

Frau Maria hat diese Verse nie erfahren. Ich sprach oder besser sang sie mir selber vor, wenn ich allein im tiefen Walde umherirrte. Maria gegenüber wurde ich verhaltener als vorher. Als sie merkte, dass es dabei blieb, blasste ihr Blick. In meiner Hilflosigkeit mied ich sie, lief allein und fühlte eine Halbheit, die mich unglücklich machte. Beim Abschied lächelte Maria und sah mich mit leeren Augen an wie eine Sphynx. Ich stand danach zuhause in unserer engen Schlafstube vor dem Spiegel und kam mir wie ein Fremder vor. Es lief mir kalt über den Rücken. Aber immer wieder zwang es mich, mein Spiegelbild anzustarren.
Als der Unterricht wieder begonnen hatte, riss Sankt Pauli mit seiner brutalen Alltäglichkeit mich rasch aus meiner Grabesstimmung und zog mich in seinen lauten Trubel hinein. Meine erste Schule, an der ich als Lehrer wirkte, war ein hoher harter Rotsteinbau, nicht weit vom Spielbudenplatz. Es galt dort noch die geteilte Schulzeit. Wenn der Fünfzehnte des Monats gekommen war, zählte der väterlich freundliche Hauptlehrer Herr Hansen mir lächelnd die vier oder fünf Zwanzigmarkstücke — Goldstücke! — auf den Tisch und entschuldigte sich, wenn er auch ein paar Silbermünzen dazwischen legen musste. Man hatte das Gefühl, reich zu sein. Und Sankt Pauli lockte. Dazu kam, dass ich von den Zirkusakrobaten und Varietékünstlern für die Kinder, die in ihrer Gruppe arbeiteten, um Unterricht gebeten wurde, die Stunde für fünfzig Pfennig. Zweimal in der Woche hielt Hamburg sie dazu verpflichtet. Und so saß ich denn während unserer Schulpause von zwölf bis zwei Uhr meistens im „Eden“ oder bei „Emil Naucke“ oder bei „Hein Köllisch“ irgendwo in einem Bühnenwinkel, während die Erwachsenen ihre Nummern übten, und unterrichtete, so gut es ging. Da es meistens Ausländer waren, konnte ich mich oft nur kümmerlich mit ihnen verständigen. Aber darauf kam es auch nicht an. Es musste nur unterrichtet worden sein. Und die Kinder durften nicht unnötig belastet werden. Meinen Lohn bekam ich nicht immer. Plötzlich war die Spielgruppe verschwunden. Aber Freibillette für alles Mögliche erhielt ich zugesteckt und saß abends bei den „Achtundzwanzig Bildschönen“ oder im „Warmen Tee“ oder auch bei Hein Köllisch. Und hier des öfteren. Seine plattdeutschen Couplets machten mir Spaß. Ich sehe ihn heute noch auf der Bühne:
To Pingsten, och wie scheun,
wenn die Natur so greun,
un allns nach buten geit,
dat is en wohre Freid – – – –

Es zog mich auch mit den anderen jungen Kollegen der Schule in den nächtlichen Taumel Sankt Paulis hinein. Aber anders als bei ihnen blieb ich innerlich unberührt davon. Zwar kamen in den Nächten wüste Träume und erschütterten mich. Und einmal stand meine Muter an meinem Bette und weckte mich: „Warum stöhnst du so, Junge?“ Und ich mied ihren Blick und schämte mich.
Damals war es ein schweigsamer und ernster Kollege, dem ich mich anschloss. Er zeichnete gern und führte immer ein Skizzenbuch mit sich. Auch ich fing an, meine Schüler zu portraitieren. Im Sommer 1902 nahm ich mit ihm zusammen an einem Zeichenkursus teil im Hamburger Zoo. Der Kollege selber malte schon in Öl. Es waren noch andere Lehrer dabei. Ich kam mir recht ärmlich vor, weil ich ohne Malkittel und ohne Palette war und nichts als einen Zeichenblock und einen Bleistift mit mir führte. An des Kollegen Seite skizzierte ich ein rothaariges Kängeruh, das sich im Sande sonnte. Aber man sollte auch Tiere in ihrer Bewegung festzuhalten versuchen. Schließlich gelang mir auch das. Der Leiter des Kursus, der Maler Horst, erkannte meine Begabung mit freundlichen Worten an, ja, eine ruhende Löwin nannte er gut gelungen. „Sie haben in Ihrer Skizze immer irgendwo einen schwarzen Fleck. Und der sitzt richtig. Und darauf kommt es an.“ Dieses Lob erwärmte mich und machte meinen Eifer noch größer. Ich versäumte keinen Sonntag. Aber die sichtbare Überheblichkeit der andern drängte mich schließlich doch aus dem Zirkel. Da war der lächerliche „Schöne Emil“, der im großen Raubtierhaus vor seiner Staffelei stand und mit weit ausgreifender Gebärde den Mähnenkönig der Tiere in Lebensgröße malte. Mich deuchte, der alte Löwe sah verachtend über ihn hinweg.
Während dieser Zeit erhielt ich einen Brief der Wohldorfer Maria: sie erwarte mich im Botanischen Garten da und da. Es war ein sonniger Oktobertag, als ich hinging. Wir trafen uns auch und setzten uns neben einander auf eine verlassene Holzbank unter alten Ulmen. Bald redeten wir eifrig, bald schwiegen wir und sahen aneinander vorbei auf den Stadtgraben, auf dem Schwäne schwammen. Maria lehnte sich gegen mich. Es fing an, dämmerig zu werden. Ich fühlte mich unbehaglich, wünschte mich weit weg und legte dennoch meinen Arm um Maria. Und so saßen wir lange. Plötzlich, ich erschrak fast, erhob sie sich, sah mich mit einem langen Blicke an, Tränen traten in ihre Augen – dann ging sie. Ich kam mir sehr erbärmlich vor, wollte ihr nachstürzen, hörte aber in mir eine deutliche Stimme Nein sagen und schritt in entgegengesetzter Richtung aus dem Garten.
Ich habe Maria niemals wieder gesehen. Ich habe auch keine Verse mehr geschrieben. Das Zeichnen nahm mich immer fester in seinen Bereich. Ich ward an den Schulen, an denen ich nach der Reihe tätig war, der Zeichenlehrer. Und vor Weihnachten musste ich von Schule zu Schule pilgern und mit bunten Kreiden überall den von mir begehrten Weihnachtsmann mit Baum und Rute und allen sonstigen Zutaten an die Wandtafel malen. Ich fuhr mit meiner Zeichenklasse für zwei Pfennig die Person auf dem Fährdampfer nach Steinwärder und ließ die Jungens Schiffe zeichnen. Und es war ein anderes Leben als in der engen Klasse. Dass die Bengel zwischendurch einmal ins Wasser wateten — nun ja — das gehörte dazu. Wie wollte man Wasser malen, wenn man es vorher nicht mit den Füßen gefühlt hatte. Zwar gab es Rektoren, die das nicht einsehen wollten und von Stundenvertrödelei sprachen.
Seit ich Maria in die Augen geschaut hatte, jene Augen, daraus hernach der Zauber gewichen war, kam ich mir halb vor und suchte nach der andern Hälfte, die mich ganz machen sollte. Einmal war es ein frisches Milchmädchen, das nächste Mal eine hochschreitende Blondine. Wir gingen aneinander vorüber und grüßten uns freundlich. Das machte mich für kurze Augenblicke fröhlich. Dann aber kam wieder die Unruhe über mich. Ich wusste nichts Rechtes mit mir anzufangen, ward ein tagtäglicher Badegast der Schwimmanstalt auf der Hohenweide und lernte mit meinen zweiundzwanzig Jahren das Schwimmen. Danach kaufte ich mir ein Fahrrad und lernte radeln und fuhr nach Pinneberg und Segeberg und weiß der liebe Herrgott, wohin überall. Und ich lag wieder im Luruper Moor, wo ich als Siebzehnjähriger gelegen hatte und wartete auf die Wohltat der hohen Gräser und summenden Insekten. Aber sie ward mir nicht mehr. Ich musste an die Stimme des Engels denken nach der Vertreibung aus dem Paradiese: Verflucht sei der Acker um deinetwillen, Dornen und Disteln soll er dir tragen, bis dass du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Ich saß zuhause und schrieb Grabgedichte und zerriss sie wieder.
So kamen die Sommerferien 1902 heran. Ich traf kurz vorher einen Kollegen, der schon seit langem in seinem Heimatstädtchen Hohenwestedt in Holstein Schulkinder zu ihrer Erholung billig unterbrachte. Er bat mich, ihm dabei zu helfen und die Aufsicht in den Ferien zu übernehmen, wofür mir freier Aufenthalt zugesagt wurde. Ich schlug ein. Und bei dieser Aufsicht in Hohenwestedt lernte ich Franziska Blaschka kennen, welche die Mädchen betreute, wie es meine Sache bei den Knaben war. Ich hielt sie für eine Bauerntochter, deren rote Frische mich überraschte und anzog. Sie trug das dunkelbraune Haar schlicht in der Mitte gescheitelt. Ihre großen blauen Augen standen dazu in einem seltsamen Gegensatz. Je öfter wir einander begegneten, desto wohler war es mir, die natürliche Selbstsicherheit des Mädchens zu empfinden. Es schien mir auch nicht abgeneigt, meine spontane Art ihr zu gefallen. Wir waren bald beide erst mit dem Tag zufrieden, wenn wir uns begrüßt und miteinander unsere Gedanken ausgetauscht hatten, und ein herzhaftes Lachen war immer dabei. Es stellte sich heraus, dass Franziska und ich fast Haus an Haus gewohnt hatten durch Jahre hindurch. An jener alten Werkstattscheune meiner Fensterträumereien hätte ich nur vorbeizuspähen brauchen, um das hohe graue Mietshaus zu erkennen, darin sie bei ihrer Mutter wohnte.
Zuhause war meine Mutter wortkarg und ohne ein Lächeln, als ich das fremde Fräulein zum ersten Mal mit mir genommen hatte. Und es blieb das fremde Fräulein. Meine Mutter äußerte sich wenig, aber ich hatte aus ihrer Haltung das deutliche Gefühl, dass sie meine Wahl missbillige, wie sie überhaupt mein Heiratenwollen für verfrüht ansah. Es ist mir heute begreiflich, weil mein Vater erst vor Jahresfrist gestorben war und die Versorgung der Familie wesentlich auf meinen Schultern ruhte. Damals aber war all mein Sinnen nur auf die Ehe mit Franziska gerichtet. Die Hochzeit schob sich noch zwei Jahre hinaus, weil von beiden Seiten mühselig jeder Pfennig für das allernotwendigste Hausgerät zusammengespart werden musste. Ich weiß noch deutlich, wie ich und der jüngere Bruder meiner Braut die Kücheneinrichtung: ein Tischchen, zwei Stühle und ein Schränkchen aus rohem Tannenholz gezimmert, auf der Judenbörse in der Elbstraße in Hamburg für zehn Mark erstanden und auf dem Rücken nach Hause schleppten. Meiner Mutter wegen hatten wir die Feier auf neutralen Boden verlegt, in das vornehme Parkhotel, das unserer und meiner Mutter Wohnung nahe war und an jenem Teich lag, der uns allen bekannt und lieb war. Aber die Mutter kam nicht. Ihr Stuhl blieb leer.
So schieden sich mein Sohn-Gewesensein und mein Mann-Gewordensein mit diesem Tag. Franziska und ich lebten wie auf einer Insel. Wohl überwogen die Stunden des Glücks, aber ich stand auch oft und sah durch das Fenster unserer Wohnstube in jene Richtung, in der meine Mutter alleine hauste mit dem nachgeborenen jüngsten meiner Brüder (Paul), der Musiker wurde. Musik klang durch unsere Wohnung kaum, obwohl Franziska — und mit Stolz — ein Klavier mit in die Ehe gebracht hatte. So gern sie Musik hörte, so wenig war sie praktisch dafür begabt. Ich wollte es nicht wahr haben, als ich es zuerst entdeckte. Dabei besaß meine Frau für Verse ein feines Gefühl. Aber ihr Körper machte rhythmisch nicht mit, ob sie schon glaubte, eine gute Tänzerin zu sein. Als die Kinder geboren wurden: die Ilse, die Hedda, die Trude, trug ich jedes auf meinen Armen in der Stube umher und sang ihm Tonleitern vor und Choräle, damit sie um Gottes willen später singen könnten, was ihrer lieben Mutter völlig versagt war. In der Wiesenstraße 42 ward der dicke Schneidermeister, der unter uns im Keller wohnte, ob solcher Singerei und Hin- und Hertrampelei über seinem Kopfe erbost und pochte mit einem Besenstiel gegen die Decke, wonach die Litanei nicht immer gleich verstummte. Die nachgeborene Ulla, trotzdem sie es zur staatlich geprüften Klavierlehrerin brachte, hat von diesen musikalischen Vorübungen gerade am wenigsten abbekommen. Der Krieg war dazwischen getreten und hatte mich gleichgültiger gemacht.
Mutter Ziska! das war ihres Wesens Kern. Wie sie denn auch eine vorzügliche Lehrerin gewesen sein muß. Als sie sich nämlich bei ihrem gestrengen Herrn Schulinspektor Stave (dessen Enkel später ihre Tochter Hedda heiratete) sich abmeldete, weil sie ehelichen wolle, meinte dieser, der schon ihr Herr Rektor in der Schule gewesen war, und sah sie durch seine Brille mit einem verschmitzten Lächeln an: „Franziska, es wäre für die Schule besser, dein Mann würde abgehen anstatt deiner. Du bist der bessere Pädagoge. Aber meinen Segen sollst du doch dazu haben!“
Ich habe mit meinen Kindern gern in der Stube herumgetobt oder ihnen Bilder gezeichnet oder bin mit ihnen ins Grüne gegangen, aber die Stetigkeit ihrer Mutter hat mir immer gefehlt. Die Tiefe unserer ehelichen Gemeinschaft ist in einem meiner schönsten Gedichte festgehalten worden:
Nur du hast den Schlüssel
zur innersten Kammer.
Nur du weißt, welch jammervoll
Menschlein ich bin.

Die andern sehn
den Mantel wohl flattern.
Was sie ergattern,
ist Spiel nur im Wind.

Sie äugeln und deuteln,
zerlegen und prägen
und sind dch auf Wegen,
die meine nicht sind.

Nur du hast den Schlüssel
zur innersten Kammer.
Nur du weißt, dass Gottes
Hammer ich bin.
[hier leichte Änderungen zu H 82]


Bis zum Jahre 1908 blieb ich als Lehrer in der Hopfenstraße in Sankt Pauli und hatte Schüler, die untereinander und zuhause plattdeutsch sprachen. Heute ist das wohl kaum noch der Fall. Und wo meine Schule hochbeinig stand, liegt seit 1943 ein Aschenhaufen.
Von einer Klasse dieser Schule, in der ich an jenem Nachmittag Zeichenunterricht gab, sah ich am 3. Juli 1906 den Turm der großen St. Michaelis Kirche, unsern Groten Michel, dessen Riesenturmuhr mit den goldenen Zeigern unsere einzige Schuluhr gewesen war, in Rauch und Flammen aufgehen und zusammenstürzen. Abends im Bett vor dem Einschlafen kam mir das folgende Gedicht und war durch die Initiative meiner Frau Franziska schon am nächsten Tag in der Neuen Hamburger Zeitung für alle Leute zu lesen:
De Grote Michel
Nu noch düsse lütte Streck ….
[Text z.B. in Mf 7; dort mit Druckfehler!]

Das Gedicht stand bald auf Taschentüchern und Tellern gedruckt und machte mich populär. Die „Neue Hamburger Zeitung“ verpflichtete mich daraufhin, für ihr Feuilleton jeden Sonnabend ein plattdeutsches Gedicht zu bringen. Es war wie ein Sprung durchs Feuer, aber die fünf Mark Honorar lockten. Zwei gute Jahre habe ich es durchgehalten und musste von den Herren Schulkollegen manchen Spott über mich ergehen lassen. Es liefen auch tolle Verse unter: Dor sitt en Papagei in‘ Boom und ähnliche. Aber manche sind — das darf ich heute sagen — lebendig geblieben trotz Krieg und noch einmal Krieg und was dazwischen lag: Stratenmusik, Backen blewen und auch jenes Gedicht, das eins der letzten meiner Zeitungsserie war und dessen sich Franziska meinte schämen zu müssen: Rodegrütt. Und gerade das gehört zu den immer wieder von mir beim Lesen verlangten Gedichten, auch heute noch. Da hat der sonst so sichere Animus Franziskas einmal vorbeigetappt.
Als Dr.H.W.Fischer das Feuilleton übernahm, geschah es, dass er ein Sonnabend-Gedicht ablehnte. Er zog ein komisches Gesicht, als ich auf diese Ablehnung zurückkam (Er hatte mir auch eine Wochen-End-Plauderei aufgehalst: Kott un lank vun de Waterkant, das ich 2 Jahre durchhielt) und wies mich an seinen Chef Dr. Justus Hendel. Der sah das Gedicht, das trotzdem in Satz gekommen war, an und meinte: Darin kommt eine Kuh vor. Eine Kuh in einem Gedicht — das geht nicht. Wir sahen uns starr an. Ich ging hinaus. Das Gedicht steht in Mank Muern (1953 S.66), und die Reihen heißen:
Üm mi rüm so deepe Roh.
Vun de Wisch blot blarrt en Koh
Dr.jur.Hendel — wo blieb er? De Koh blarrt hüt noch!
Das sieht so aus, als ob ich mit plattdeutschen Versen begonnen hätte. Aber in der Wiesenstraßenwohnung Nummer 42 entstanden bereits hochdeutsche Gedichte, von denen ich eines hier aus seiner Vergessenheit retten möchte, weil es das erste von mir öffentlich-erschienene gewesen ist [in der Zeitschrift „Niedersachsen“ 1905]:
Am Herd
Ich hielt mein Töchterlein in meinen Armen
[Text in VW 38]
Darf ich diese Strophen immerhin schon ein Gedicht nennen, so schrieb ich damals auch Sachen, die nichts als bloße Reimereien waren und — ja, ich muß das ehrlich bekennen — auch mir nicht mehr bedeuteten. Und das kam so:
Der Kollege „Jägo“, wie er genannt wurde — saß im Vorstande des St.Paulianer Bürger-Vereins, wozu vielmögende Herren des Hafenbetriebes gehörten, die zu leben wussten. „Jägo“ schlug mich als den Mann vor, der für gereimte Damentoaste und andere festliche Notwendigkeiten, die den Bürgern Kopfzerbrechen machten, in Betracht käme. Und ich als Jungverfreiter gönnte meiner Frau die satten Abende im Fährhaus oder wo es sonst behaglich und gute Küche war, und sagte zu und reimte Damentoaste. Wir saßen und aßen und mussten dazwischen einen Rezitator blutige Balladen brüllen hören, oder ein Sänger ließ Loewe’s Lied von der Uhr: „Ich trage, wo ich gehe – -„ mit Stentorstimme vernehmen. Aber das gehörte den Festgenossen dazu wie der Meerrettich zum Karpfen. Ja, dabei musste ich einmal meine Lieblingsballade, Fontane’s prächtigen Archibald Douglas zwischen Messergeklapper und Gläserklirren über mich ergehen lassen. Aber der Wein war gut, und der Braten mundete. Und zuhause gab es das nimmer.
Damals habe ich auch um des Verdienens willen gesungen. Es waren zweihundert Mark, für die ich unter Wilhelm Böhmer im Hamburger Kirchenchor jeden Donnerstag in der alten schönen Katharinen-Kirche sang: „Herr, nun lässest Du Deinen Diener in Frieden fahren“. Wilhelm Böhmer war ein gestrenger Kantor, und jede Motette mussten wir bis ins Kleinste intus haben, eher ruhte er nicht. Aber diese vorgelebte Gewissenhaftigkeit hat mir gut getan, dazu die Andacht und die Scheu, mit der Böhmer die schmale Wendeltreppe innerhalb der Orgel hinaufstieg, jene, die einst auch der große Bach hinaufgestiegen war. Seit den furchtbaren Bombennächten des Juli 1943 ist diese Kirche der Anmut samt ihrer althamburgischen Umgebung in Trümmer gesunken. Nur in meinem Gedächtnis ist alles noch lebendig da: das Brausen und Branden der alten wunderbaren Bachorgel, das von mächtigen Säulenbündeln getragene Gewölbe, blau mit den goldenen Sternen darin – – und die Ergriffenheit und Andacht Wilhelm Böhmers. Den Höhepunkt dieser Periode bedeutete für mich der Abend, als ich die Schumann-Heink in St.Katharinen die Schöpfung von Haydn singen hörte, eben ehe sie uns verließ und nach Amerika auswanderte: „Mächtig tönt Er im Donnergeroll!“ (..schrecklich rollten die Donner umher)
In diesen hungrigen — ich möchte fast sagen: gesundhungrigen — Jahren forderte mich die Zeitschrift „Folge mir in die Hamburger Walddörfer“ auf, mit einer Erzählung ihr beizuspringen, die sich auf eins der Walddörfer beziehe.
Meine gescheite Frau tippte sofort auf meine Maria-Geschichte, von der ich ihr vor langen Jahren gebeichtet hatte. Das wies ich zurück, aber eine andere Erinnerung stieg desto lebendiger in mir auf und ließ mich die Novelle: „Die Hexe von Wohldorf“ schreiben. Sie erschien auch mit Waldmotiven als Schmuckgaben. Meine Frau hielt die Belegstücke mit Stolz in Händen, mit doppeltem Stolze, denn sie hatten ein erkleckliches Honorar eingebracht.
Wer aber sagt unser Erschrecken und Erstaunen aus, als bald hinternach ein amtliches Schreiben bei uns einlief, wonach ich vom Wohldorfer Gastwirt R. wegen Beleidigung seiner Tochter und Diskriminierung seiner Gaststätte auf eine Entschädigung von 3000 M beim Gericht verklagt worden sei. Der Termin zur Zeugenvernehmung etc war desgleichen bereits angegeben.
Und der Termin kam.
Ich hatte meinen guten Freund vom Volksheim her, den Dr.jur.Scholz gebeten, mich zu vertreten. Und er tat es auf eine köstliche Weise. Als nämlich der erste der 32 Belastungszeugen vor die Rampe trat, fragte ihn Dr. Scholz, auf welche Stelle der Novelle sich sein Unwille beziehe. Worauf der Gefragte fassungslos ihn ansah. Worauf wiederum der Doktor prompt nachsetzte mit der Frage: Haben Sie die Novelle gelesen? Und zur Antwort ein dummes: „Novelle? — Weiß ich nichts von!“ Und wieder der Doktor: Sie haben sie also nicht gelesen? Und er: „Ich — ich las bloß meine Zeitung.“ Der Doktor: Aber warum haben Sie sich dann als belastender Zeuge gemeldet? Und er: Ja, der Herr Doktor Y. hat uns doch gesagt, daß das eine große Schweinerei wär und wir alle dagegen gehn müssten, alle Mann hoch! Damit war der Zeuge als solcher ausgelöscht und mußte in den Hintergrund treten, während von draußen der zweite eintrat, dem es akurat ebenso erging, und dem dritten und vierten und fünften nicht anders.
Der Herr Dr. med. Y. kam in eine sehr peinliche Situation, aus der er sich mit sozial klingenden Phrasen, dass man als Gebildeter der ungelenken Leute sich annehmen müsse – – etc. vergebens aus der Affäre zu ziehen versuchte. Genug: der Amtsrichter verlas die ganze Novelle mit sonorer wohltuender Stimme, fand sie durchaus im Rahmen des Dichterischen und sprach mich kostenlos frei. Ob ich damals meine toggenburgerische Verliebtheit zur Maria, die doch wesentlich dahinter stand, preisgegeben habe, weiß ich heute nicht mehr. Sie selbst hat von allem sicher kein Wörtchen erfahren.
1912 erschienen die plattdeutschen Gedichte unter dem Titel „Mank Muern“ bei Alfred Janssen in Hamburg und fanden lauten Widerhall. 1908 war ich inzwischen nach Groß-Borstel ins Freie gezogen. Welche Wonne, als meine Frau und ich unsere beiden Kleinen in satter Sommersonne dort im Garten im Sande vor uns spielen sahen, und keine Häusermauern rundum uns mehr einsargten. Mir sind damals — es ist fast dumm zu sagen — aber mir sind damals wahrhaftig die Tränen in die Augen gekommen. Und wäre das nicht Glück?
Wenn in jenen Sommern der Kaiser nach Hamburg kam, sah er sich das Rennen in Groß Borstel an. Da standen wir denn, Franziska, die Kinder und ich, und warteten. Ein frohes Menschengewimmel säumte die Straße von der Alsterkrugchaussee herauf. Wir hörten Hurrarufen und reckten die Hälse. Und dann kam das kaiserliche Sechsgespann dahergetrabt, dem Kutscher wehte der Helmbusch, der Kaiser grüßte mit der Rechten jovial nach beiden Seiten. Und neben ihm saß preislich Bürgermeister Mönckeberg in Amtstracht. Es lag über allem noch ein Hauch des Familiären.
In dieser Zeit — Mank Muern war eben im Buchhandel erschienen — bekam ich einen Brief meines alten Geschichtslehrers aus meiner Seminarzeit, Dr. Wilhelm Ohnesorge, worin er mich wegen der mäßigen Zensuren, die er mir leider immer hatte erteilen müssen, um Verzeihung bat. Mein Buch habe ihn überrascht und begeistert. Dabei stand das Fontanewort: „Der ist in tiefster Seele treu, der die Heimat liebt wie du“. Ich sah im Geiste vor mir den dürren Mann in der gelbbraunen langschössigen Jägerjoppe, wie er oft in der Klasse gestanden hatte und sich nervös den Kopf kratzte, dass ihm sein goldenes Pincenez auf der etwas zu kurzen Nase tanzte und wie er von einem Bein aufs andere trippelte. Ich war später bei ihm in Lübeck. Er lag wegen eines geschwollenen Beins auf einem Feldbett. Es war während des zweiten Weltkriegs. Er ließ trotz des Protestes der Krankenschwester die letzte Flasche Burgunder aus ihrem Versteck holen und trank mit mir Brüderschaft. Sela!
Ohne meinen Auszug nach Groß Borstel wäre Mank Muern kaum zustande gekommen. Dort wohnten zwei Kollegen, Henry Kohn (er schrieb unter dem Pseudonym „Hakon“!) und Guido Höller, die mir keine Ruh ließen, bis wir mühselig alle Gedichte zusammengestellt hatten und auch ein Verlag gefunden war. Und hier, sozusagen vor Torschluss, sind gerade die besten plattdeutschen Gedichte erst hinzugekommen. Als ich nämlich merkte, dass es mit dem Druck des Buches ernst ward, packte mich das Gefühl der Verantwortung, ob ich mit dem Gebotenen vor mir bestehen könnte. Unter dem Druck dieser Selbstbesinnung quollen Gedichte auf, von denen meine beiden Kollegen sehr überrascht waren. Dahin gehört z.B. das Gedicht: „In’n Dag“, ferner „De Holtsnitt“ und „Harwst“.
Mein erstes Debut in Groß Borstel war allerdings nicht gerade ermutigend gewesen. Man hatte meine Zeitungslyrik gelesen. Namentlich ein Vers über die Groß Borsteler Freiwillige Feuerwehr hatte dahin gewirkt, dass man mich aufforderte, vor der Gemeinde aus Fritz Reuter vorzulesen. Ich war überrascht, sagte aber zu. Mit wahrhaftigem Erschrecken entdeckte ich an einem der nächsten Tage am Stamm einer alten Kastanie, deren Laub sich schon golden zu verfärben begann, ein Plakat, auf dem mein Name groß zu lesen stand und dass ich im Gasthof zum Markt aus Fritz Reuters Werken lesen würde. Ich holte meine Frau vor das Plakat. Sie war gar nicht erschrocken, und am geichen Abend überlegten wir miteinander das Programm. Henry Kohn kam auch dazu und gestand mit einem mephistophelischen Lächeln, dass er das Ganze organisiert habe. Es waren noch drei Wochen bis zum Leseabend. Franziska fand meinen grauen Cheviotanzug unmöglich. Wir fuhren in die Stadt und kauften irgendwo einen Smoking für fünfundsechzig Mark. Er passte vorzüglich. Franziska war sehr stolz. Und dann kam der Abend. Innerlich und äußerlich gewappnet schritten wir auf den Gasthof zu. Es wunderte uns allerdings, dass wir fast allein auf der Straße waren. Aber die andern würden schon sitzen und auf uns warten. Mutig traten wir in das Vestibül und wurden etwas aufgeregt, als sich niemand zeigte. Endlich öffnete sich die Tür zum Gastzimmer, wo ein knappes Dutzend Männer um einen Tisch saß, der Bauer Hinsch aufstand, uns begrüßte und mich bat anzufangen. Ich glaubte noch immer mit voller Gewissheit, dass dies die Prämilinarien wären und dass nun die großen Flügeltüren zum Saal sich öffnen würden, wo die Menge säße. Aber nichts dessen geschah. Was da am Biertisch saß, war mein gesamtes Auditorium. Ich habe dann gelesen und habe sehr schlecht gelesen (wie Henry Kohn sofort hinterher feststellte). Und wie sollte ich anders, war doch mein großer schöner Traum vom rauschenden Beifall des Publikums in nichts zerronnen. Es kam mir vor, als ob mein Smoking mich vor mir selber lächerlich machte.

In Groß Borstel habe ich nur anderthalb Jahre gewohnt, weil der Eigentümer das Haus verkaufte. Wir mieteten uns den Flügel eines neu gebauten Hauses im Alstertal am Primelweg 8 mit dem Blick nach Süden. Auch ein winziges Gartenstück war dabei. Durch dreißig Jahre ist diese Wohnung unser Nest im wahrsten Sinne des Wortes gewesen. Wir konnten uns kaum umdrehen, ohne dass einer hinausfiel. Die große Kohnsche Diele aber in Groß Borstel blieb unser Studio, darin selbst der damals berühmte Ewald Gerhard Seeliger mit uns zusammen saß und nach seiner Art alles gern ironisierte. Und der gewandte und charmante Oswald Pander gehörte dazu mit seinem Überbrettlsang:
„Ja, was sehn Sie mich denn an?
Das ist Talent, wenn man das kann.
Ob ich gleich ein Unbekannter bin.
Ein Moment und es erkennt
wohl der ganze Kontinent:
dass ich der Meisterdichter Pander bin.“

Von seiner sonoren Stimme gesungen nach eigener Melodie in Ernst von Wolzogens Art vorgetragen, machten diese Dinge auf mich Unbedarften ihren Eindruck. Wir haben auch einmal auf seinen Vorschlag Blumengedichte um die Wette gemacht, er hoch-, ich plattdeutsch.
In jene Groß Borsteler Wohnung am Warnckesweg 27 kam eines Tages, von seinem Sohn begleitet, mit Handstock und breitrandigem Hut und dem blitzenden Pincenez Dr. Jakob Löwenberg und wollte bei mir Unbekanntes und Handschriftliches meines Urahnen Matthias Claudius haben. Er kam an die verkehrte Stelle. Ich besaß davon nichts, nicht einmal einen Brief des Wandsbecker Boten, nicht sein Bild, das bei der Mutter im Hause hängen geblieben war. Der Doktor sah erstaunt umher und begriff nicht, dass ich keine Bibliothek hatte. Die paar billigen Meyer-Klassiker in zwei Reihen auf dem verschnörkelten Bord über dem Sofa an der Wand, rechnete er nicht dazu. Er ging enttäuscht wieder fort.
Aber bald danach bat mich ein Brief von ihm nebst Einlasskarten in den Conventgarten, weil unter anderem Otto Ernst drei plattdeutsche Gedichte von mir lesen werde. Franziska war glücklich. Ich freute mich auch, hatte aber ein leichtes Gruseln dabei. Ich versäumte in der Aufregung, mich für den Brief bei Löwenberg zu bedanken. Er hat es mir nicht übel genommen. Ich saß dann mit Franziska oben im zweiten Rang, obwohl unsere Karten keinen Platz besonders angaben, fand auf dem Programm meinen Namen nicht genannt, hielt alles schon für einen baren Irrtum und wollte wieder hinausgehen — als Otto Ernst auf die Bühne trat, sich setzte und mit seiner rollenden warmen Bassstimme meine Gedichte las. Ich duckte mich schier in mich selber zusammen, wie ich nun meine eigenen Verse von fremden Lippen vor all den fremden Menschen gesprochen hörte. Was danach kam, hörte ich kaum mehr. Und unser Weg heim war mehr ein Schweben als ein Gehen. Das geschah im Herbst 1908, also lange vor dem Erscheinen von Mank Muern.

III.
Für mein Schulleben war meine Hingabe an das Dichten eine Behinderung und umgekehrt noch mehr. Aus diesem Dilemma fiel über mich als Lehrer wie als Poet eine innere Unsicherheit, die jedes Mal überwunden sein wollte, ehe ich zur Klarheit kommen konnte. So lief ich eigentlich immer mit einem schlechten Gewissen herum. Die aphoristischen Verse in den 1920 herausgekommenen „Liedern der Unruh“ zeugen davon.
Durch meine plattdeutschen Gedichte in den Hamburger Zeitungen und namentlich, nachdem Mank Muern erschienen war, hatte ich Anschluss an einen Kreis junger Poeten und Künstler gefunden, der am Fischmarkt in einem tiefen Wirtskeller, der sich burschikos „Himmelsleiter“ nannte, zusammenkam. Hans Friedrich Blunck war dabei und Gorch Fock und Geert Selig, der gerade über Johann Hinrich Fehrs eine Monographie schrieb, und Fritz Lau mit dem schönen Lockenkopf und Emil Sand, der Verfasser von „Cavete“, das schon von uns für alt angesehen wurde, und Ewald Gerhard Seeliger, der Redselige. Auch Wilhelm Poeck ist einmal dabei gewesen, der „Zöllner und Sünder“, wie er von uns geuzt wurde. Dazu kamen Maler wie Harry Reuß-Löwenstein, Tedjus Tügel und andere, deren Namen ich nicht behalten, am Ende gar nicht gewusst habe. Denn es ging sehr unbürgerlich unter uns zu. Auch war das Untergründige, in das man über die schmale steile dunkle Stiege hinabgekommen war, etwas der geordneten Oberwelt Entrücktes. Gewaltige Rederhapsodien rauschten über den runden blanken Eichentisch hin und her. Ich sehe immer noch Gorch Fock. Seine braunen Augen blitzten wie Sonnenglanz über der See, wenn er seinen Becher hob und rief: „Op grote Fahrt! All Seils sett!“ Ich war sicher einer der Stilleren. Ich hatte noch nicht so dicke Bücher geschrieben wie die andern. An einem solchen Abend hörte ich Gorch Fock sagen: „Harr ick man jichtens Tid nog to schriwen. Bit in de Hemdsmaugen sitt ick vull vun Geschichten“. Da muss ich noch tiefer in mich hineingekrochen sein, denn er sah mich an und fragte: „Wat is di denn?“ Ich sagte, ich glaubte nun nichts mehr schreiben zu können, nachdem Mank Muern heraus war. Da lachte er laut auf und schüttelte mich an den Schultern und sagte: „Un dat glöwst? Keen half Johr un din niges Bok is dor, lat uns dor op anstöten!“ Und wir haben darauf angestoßen, obschon mein Glaube daran gering war.
Die Zeit der Himmelsleiterbegeisterung war auch die Zeit des „John Gabriel“. Das war ein abgedankter Kapitän, der rundum die Welt gesehen hatte und nun am Hamburger Hafen als Dispatcher tätig war, ob ich mir schon unter dieser Bezeichnung nichts vorstellen konnte. Aber das machte nichts. John Gabriel war ein Kerl für sich: groß gewachsen, mit krausem Grauhaar, langbeinig und von jener schwankenden Gangart, wie sie alten Seebären eigen ist. Er war ein Unruhgeist und immer voller Pläne für die Verbesserung der Welt und ihrer Menschen. In seinem stattlichen Hause an der Wellingsbüttlerchaussee, das ein Uneingeweihter hinter der übermannshohen Wand aus dicken Kiefernstämmen kaum aufgefunden hätte, sammelte sich Monat um Monat während des Winterhalbjahrs eine Schar von „Überspönigen“ an, wie die Nachbarn sie nannten. John Gabriel gab das Thema des jeweiligen Abends durch offene Postkarten vorher an. Er dichtete auch. Manchmal ging es dabei um die Wurst. Diese hing am Deckenbalken mitten über dem Versammlungstisch im Licht der großschirmigen Lampe und bedeutete den Dichterpreis. Einmal galt es ein Lied, das Volkslied werden sollte, ein andermal ein Weinlied. Und oben hing die lockende Wurst. Und wehe, wenn John Gabriel sie nicht selber gewann! Das wussten wir alle und gaben ihm einstimmig den Preis und freuten uns, wie der Stolz ihm aus den Augen leuchtete, und stießen fröhlich mit ihm an. Zu jenen Weinliedern gehörte auch mein „Weinlied“, das ich erst gute zwanzig Jahre später in meinen Band „Der ewige Tor“ aufgenommen habe. Damals lebte John Gabriel nicht mehr. Er hätte es mir übel genommen. Denn alle Ergüsse unserer Abende gehörten zu seinen Akten, bei denen auch seine Orakeleien über die Primzahlen lagen.
Der „Anerkannte“ — heute sagt man „Prominente“ – jener Abende war der schon erwähnte Ewald Gerhard Seeliger, durch seine Schiffergeschichten und seine Hamburger Balladen John Gabriel besonders lieb. Seeliger pflegte sich immer seitlich des ausgestopften großen Pinguins hinzusetzen, während mein Platz unterhalb des alten Uhus war, weshalb ich mir den Ulenspegel gefallen lassen musste. Es stand und hing noch allerhand Ausgestopftes in dem Raume umher und machte ihn absonderlich. Ich las dort mein Drama „Der Fliegerpastor“ vor, alle fünf Akte. John Gabriel war begeistert. Andern Morgens um sieben Uhr stand er vor meinem Bett und verlangte das Dramenmanuskript. Das Schillertheater werde es unbedingt aufführen. Es werde ein großer Erfolg werden. Ich krappelte aus dem Bett und gab es ihm. Der gute John Gabriel! Ich habe das Manuskript nie wieder gesehen. Aber sein „swatten Krusen“ auf dem Kachelofenrand zeugte davon, dass er dagewesen war, er vergaß beim Fortgehen, ihn wieder hinter den Kusen zu stecken.
Ich hatte mich gerade am Primelweg recht wie in ein Schneckengehäuse eingekräuselt und war bei einem neuen plattdeutschen Manuskript. Das sollte heißen: „Ick. En anner Bok Lyrik“. Da brach der Krieg los und riss mich bald mit sich. Das „Ick“- Manuskript verschwand unvollendet auf Nimmerwiedersehen.
Das Tier kennt nicht gut und nicht böse und keinen Mord. Der Mensch kennt alles und setzt auf den Mord die Todesstrafe. Aber ist der Krieg ein anderes? Und was unterscheidet den Menschen im Wesen vom Tier als der Wille, Frieden halten zu wollen? Christentum ist: den Nächsten lieben wie sich selbst. Und selig sind die Friedfertigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.
Das waren meine Gedanken, mit denen ich als Ungedienter in die Altonaer Infanteriekaserne in der Victoriastraße einzog. Als ich die dreckige speckige blaue Übungsuniform anziehen musste, zog ich meinen persönlichen Menschen aus. Ich hörte auf, vor mir selber zu sein. Ein fremder Befehl sprang mich an, wie er alle ansprang, die mit mir in ausgerichteter Reihe standen, als ob sie Figuren seien. Ich weiß aber nicht, ob alle andern es ebenso spürten wie ich. Mein natürlicher Humor und meine körperliche Federigkeit überwanden danach allmählich das, was man als Drill durchzumachen hatte und auch durchmachen musste, um draußen für den Ernst der Sache gewappnet zu sein. Selbst in den Nachtstunden des Massenschlafes war man nur Glied in der Kette, die ein Befehl jeden Augenblick aufreißen konnte.
Trotzdem schlug der Krieg mir zum Segen aus. Kaum wage ich diesen Satz hinzuschreiben, als käme es auf mich und meinen Segen oder Unsegen groß an.
[Seite 43 und 44 fehlen im Manuskript! jedoch im BL 1950 S.24-26 vorhanden: im wesentlichen Bericht über Hans Grimm und Krieg im Westen
Fortsetzung S.45:]

Tief vom dunklen Grunde steht wie Orgelstimme der Gedanke auf: indem ich an den Erlösertod Jesu Christi am Kreuze zu Golgatha glaube, b i n ich erlöst. Aber die immer größer werdende Hast unseres Lebens lässt uns selten bis auf jenen ruhigen Grund zurückkommen. Wie anders, ja wie anders sähe sonst die Erde aus!
1918 gelang es mir, mit dem letzten Verwundetenzug von Namur über Lüttich nach Aachen zu kommen. Wir lagen, eng aneinander gedrängt, auf den Dächern der Waggons und froren. Es war der 12. November und Rauhreif. Manche hatten sich vor der Abfahrt betrunken, kollerten unterwegs seitab ins Dunkel und waren weg. Es kümmerte uns andere kaum. Jeder klammerte sich nur desto fester an irgendetwas, das seine steifen Finger zu fassen vermochten. In Köln wurden uns die Waffen abgenommen. Ich gab sie nur mit Widerstreben, soviel Soldat war ich denn doch geworden. Und als ein alter Major zu uns ins Abteil einstieg, räumte ich ihm mit militärischer Geste sofort meinen Platz ein, worüber die anderen Kameraden laut lachten. Seltsam: es war über mich wieder jenes Herrengefühl gekommen, das ich als Knabe hatte, wenn der Schwarm der Gassenjungen mich umlärmte und ich stand und den Hals reckte. Keiner entrinnt seiner Natur. Alles ist in uns innerst beschlossen.
In Aachen erschraken wir vor dem Andrang hungriger deutscher Kinder, die unsern Wagen umringten und an ihm hochzuklettern versuchten, um ein Kommissbrot zu ergattern. Ich sah, wie einigen von uns Rauhbeinen die Tränen aus den Augen brachen und wie jeder von zwei Broten, die er hatte, ohne langes Besinnen eins davon den Kindern hinabwarf. Es ist mir nicht anders gegangen, trotzdem ich drei eigene Kinder zuhause wusste.
Als ich dann vor der letzten Wegecke in Fuhlsbüttel angekommen, durch den herbstlich kahlen Knick mein Haus am Primelweg vor mir liegen sah und durch das Heckenloch einen lauten Juchzer rufen wollte, da versagte mir die Stimme. So überselig war das Gefühl, endgültig wieder zuhause und Mensch zu sein.
Zwar war ich als Urlauber schon vorher am Primelweg gewesen. Ja, ich hatte dabei gesessen, als der Kollege William Lottig im Saal des Curiohauses vor den versammelten Lehrern aus meinen Kriegsgedichten las. Es war im dritten Kriegsjahr. Ich höre seine bedachtsame Stimme: „Und jetzt hören Sie das Symbolum dieser ganzen Zeit in sechs Reihen:
Hörst du nicht den Eisenschritt?
Wer will mit? Wer will mit?
Hinter mir da kommen Not,
Hunger, Pestilenz und Tod. …. [E 7]

Und die ganze Wärme seines Mannesherzens ließ er in das Gedicht strömen:
Mein Garten, ich grüße dich,
dass du nicht bist,
wo der Blutregen rinnt. …. [E 47]

Am nächsten Morgen mußte ich fort an die Westfront. Ich hielt meiner Frau Hand an jenem Abend in der meinen, schon abschiedsschwer.

Ich habe im Weltkrieg in den Jahren 1915-18 bei der 31er Infanterie und der Feldartillerie 45 der 18. I.D. sowie als Munitionsschreiber beim Artilleriekommandeur 18 die oft sehr bitter schmeckende Erfahrung gemacht, dass man den Charakter eines Menschen am klarsten durchschauen kann, wenn diesem Menschen die unbedingte Gewalt über andere in die Hände gelegt wurde. Ich meine hier nicht den rauhen Ton, dahinter ein braver Kerl stecken kann, sondern ich meine jene hämische Lust, den anderen parieren zu sehen. Ich musste einmal vor einem Unteroffizier bei meiner Ausbildung in der Altonaer Kaserne wegen eines offen gebliebenen Knopfloches sechsundzwanzigmal in voller Feldausrüstung den langen Korridor auf und ab laufen. Und dabei das Unerklärliche: die Kameraden grinsten dazu. Als wir aus einer Nachtübung bei regnerischem Wetter endlich wieder hundematt in den Kasernenhof einmarschierten, befahl der Herr Hauptmann hoch zu Ross den Parademarsch. Und weil der nicht klappte, forderte er ihn zum zweiten Mal. Es war nach zwei Uhr nachts, als wir die Treppen mehr herauf krochen als gingen. Gehörte das wirklich noch zur militärischen Ertüchtigung? Das fragte ich mich, dem sonst das Schlappmachen durchaus zuwider war. Es wollte mir ab und an inmitten der Marschkolonne schwindlig werden, aber ich gab nicht nach, marschierte weiter, und es ging wieder. So darf mein Vers aus den Liedern der Unruh (1920) nicht falsch verstanden werden:
Immer entdecke ich mich selber wieder, ….. [La 36]
Mit dem Wachtmeister Moll aus Vaulx war ich gutfreund, obwohl er unerbittlich auf militärische Haltung hielt, wenn man zu ihm eintrat. War da irgend etwas nicht richtig, so ließ er den armen Deubel stehen, als ob der Luft sei. Ich weiß es noch sehr genau, weil ich selbst derjenige war, der die Hacken nicht laut genug zusammenschlug. Wachtmeister Moll ist auf dem letzten Rückzug als Held gefallen, weil er seine Kanonen nicht im Stich lassen wollte. Es war eine tiefe Trauer um ihn bei der ganzen Batterie.
Und da leben auch Idyllen auf wie Blumen mitten im Winter. In Prémont sah ich vom Fenster meiner Munitionsstube auf den Ziehbrunnen und bemerkte wieder und wieder eine junge Französin, die mit den Eimern kam und endlos die Welle drehen musste, ehe die Eimer gefüllt wieder auftauchten. Da bin ich einmal und das andere Mal und viele Male zugesprungen und habe ihrer zarteren Hand den eisernen Wellengriff abgenommen. Wir winkten einander schließlich lächelnd zu, wenn wir im Dorfe oder auf dem Hof uns begegneten. Sie erwies sich als die Tochter des Bürgermeisters und flüsterte mir eines Abends zu: „Monsieur, je dore derrière ceux fenêtre la-bas!“ wobei sie mit der anmutigen Geste ihrer rechten Hand auf das im nächtlichen Dunkel liegende Haus wies. Ich blickte wohl an den folgenden Abenden nach jenen erleuchteten Fenstern, aber der Vater in mir schob mich sachte nach Hause in mein Quartier. [Zitat in Griechisch aus Sappho: Ego de mona kateudo]
Ich habe im Frühling Anno 17 im Graben bei Achit le petit sieben zitronengelbe Schnecken gesammelt, die herrlich gewundene Häuschen hatten und wie ein Wunder an dem Blattwerk krochen, und habe sie als Feldgruß meinen drei Töchtern mit einem Verse in einem Futteral nach Hause geschickt. Sie sind alle sieben heil angekommen und waren noch (oder ihre Nachkommen) zehn Jahre später im Garten am Primelweg im Himbeergebüsch zu finden. Soviel vom Krieg! – –

Die Zeit, welche nun folgte, erhielt bald für mich und für viele andere, jüngere, ein schlichtes Kennzeichen. Ich hatte ein Lied geschrieben, das 1913 auf einer Heidefahrt mit Jugendlichen entstanden war, und das nun von dem Hamburger Kaufmann Michael Englert vertont wurde, und zwar für eine Gruppe Jungsozialisten, die hinter seinem Büro in der Fuhlentwiete auf ihren Akkordzithern übten und ihm damit das Leben sauer machten. Er schenkte ihnen Lauten und vertonte ihre Texte, die sie ihm brachten. Mein Lied fand ihren besonderen Beifall. Sie nahmen es 1920 mit auf das große Weimarer Jungsozialistentreffen. Es wurde als Hamburger Lied allgemein bekannt und war bald das Lied der Jugend:
Wann wir schreiten Seit an Seit
und die alten Lieder singen
und die Wälder widerklingen,
fühlen wir, es muss gelingen:
Mit uns zieht die neue Zeit.

Es hat alle Wandlungen der Zeit überdauert und ist immer wieder gesungen worden und wird heut noch gesungen und hat sich manche Verballhornisierung gefallen lassen müssen (siehe: Ev.Jungmännerwerk!). Dem Ursprung des Liedes, der durchaus unpolitischer Natur ist, kommt die spätere Vertonung durch meinen Freund Armin Knab wesentlich näher.
Dieses Lied erlebte ich als „Kampflied“ in des Wortes wahrer Bedeutung bei einem Jugendtreffen im Hamburger Zoo, zu dem eine große Anzahl von Jungsozialisten aus Dänemark, Holland und Schweden gekommen waren und mit gegenseitigen Begrüßungsworten, mit gemeinsamem Singen der alten Wandervogellieder und mit Volkstänzen sich vergnügten. Es war der herzliche Wille, über die politischen Grenzen hinweg einander zu verstehen, in diesen Jugendlichen erquickend zu fühlen. Sie sangen gleich im Beginne ihr „Wann wir schreiten“. Ich hörte es zum erstenmal auch in fremder Sprache klingen, ohne dass mehr als ein paar Freunde um mich als den Autor des Liedes wussten.
Da drang vom Restaurant her, von Paukenschlag verstärkt und mehr geschrien als gesungen das Deutschlandlied über die Festversammelten herein. Es war das Lied meiner Kinderjahre und Jungmanneszeit gewesen und ohn Arg an Sedantagen und Kaisers Geburtstag von mir mitgesungen worden.
Aber hier klang es feindselig, hier wollte es die Dänen und Schweden — ich meine, es waren auch Engländer dabei — brüskieren. Und so verstand es auch die Masse der Hörer und drängte zur Abwehr gegen die Richtung vor, aus welcher der Angriff kam. Manche griffen nach den Stühlen. Es hätte übel auslaufen können. Auf einmal aber — ich glaube Friedrich Förster hatte den Umschwung bewirkt — stieg aus tausend Kehlen und Seelen und im Schreiten weitergetragen i h r Lied und war wie ein Sturm, der die Störer binnen kurzer Minuten hinwegfegte: Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘ und die alten Lieder singen, fühlen wir: es muß gelingen. Mit uns zieht die neue Zeit!“
Es trug mich unter den Singenden, wie eine riesige Meereswoge trägt – – – dennoch: auf dem Nachhausewege summten die Lieder b e i d e in mir fort und seltsam: sie störten einander dort nicht mehr.
Von diesem Lied hörte ich auch von einer jungen Studentin an der Universität Lüttich, Grite Denée. Sie schrieb am 24.5.1931 aus rue Hors-Chateau, Liege:
– – – – Es wäre wahrscheinlich sehr typisch für Sie gewesen, so wieder in Lüttich zu kommen, wo Sie einmal als Soldat auch kampiert haben. Wette, diese Lage hätte Ihnen eine prächtige Gedicht einbegeistert! (In Klammer: Grite Denée schrieb gewöhnlich ihre Briefe französisch!) Gestern nachmittag sind wir die Freunde von Aachen am Bahnhof gehen holen. Sie hätten Fahn und Geige und Mandoline etc und eine hübsche blaue Uniform. Und sie marschierten und sangen. Und raten Sie mal, welches Lied sie am ersten gesungen haben? Ich brauche es Ihnen kaum zu sagen, nicht wahr: „Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘“ – – Und da ich es auswendig kannte, waren alle höchst überrascht und zufrieden, dass die Abgesandte der Lütticher Universität mitsingen konnte. Denken Sie, wie ich in diesem Augenblick gewünscht habe, dass Sie da wären! – – Die letzte Strophe des Gedichts haben sie aber nicht genommen.

Im Zeichen dieses Liedes stand der schon genannte Gedichtband: „Lieder der Unruh“. Auf der ersten Seite der ersten Auflage befindet sich die schlechte Wiedergabe meines selbstgezeichneten Portraits, das entstanden war, als wir am 6. Juni 1918 nicht mehr glaubten, lebendig davonzukommen. Die Gedichte wollen mir heute fast alle wie flatternde Vögel erscheinen, die keinen Zweig finden können niederzusitzen. Selbst die plattdeutschen Gedichte machen davon keine Ausnahme, z.B. „Mainacht“.
Die Unruh meiner Lieder kam aus mir selber. Und diese Unruh warf mich in einen Wirbel, der mitten in mein Eheleben fuhr und es beinahe auseinander gerissen hätte. Hier muss ich eine Fahrt mit Jugendlichen nach dem Ludwigsstein und der Hohen Kalbe erwähnen. Man hatte mich gebeten, als väterlicher Bewahrer mitzugehen. Hedda, unsere Zweitälteste, war auch dabei. Wir zogen zur Laute singend in die hessischen Dörfer ein und gewannen uns damit Nachtspeise und Nachtquartier und lagen im tiefen Heu oder pilgerten noch lange im Mondenschein am Ufer der rauschenden Werra entlang. Und da war jene dunkeläugige Geigerin mit uns, die mich je länger desto mehr in ihren Bann zog:
Mag meine Augen decken mit meiner schweren Hand:
und seh dich desto heller an der dunklen Wand.
Mag meine Ohren tauben, als wären sie beide tot:
und höre desto lauter unserer Liebe Not.
Wär ich doch die Geige hart an deiner Brust
zitternd mitzuklingen all dein Leid und Lust. [BL 29]
Ich bin wahrlich ein Besessener gewesen in jenen Wochen und begreife mich kaum und hatte schwer und lange zu ringen, ehe ich den Andern in mir überwand.
Und gerade in jener zwiespältigen Zeit schrieb ich den „Roman“ meiner eignen Existenz: Das Silberschiff, das 1923 herauskam, mitten in die Inflation hinein, die seinen Verkauf schnell unmöglich machte. Zwei Jahre danach versuchte ich in der plattdeutsch geschriebenen Erzählung „Stummel“ 1925 die Sache besser zu machen, ohne es zu erreichen, obwohl einzelne Kapitel gelangen.
Es sind die Gedichte der „Heimkehr“ 1925 und das Buch vom „Meister Bertram van Mynden“, die als Meilensteine meiner Mühsal an diesem Weg meiner Wiederbesinnung gestanden haben. Das Buch „Heimkehr“ kam im kleinen Format in einem Einband heraus, den meine älteste Tochter Ilse entworfen hatte: Lieder von Gott, Ehe und Armut. Es befremdete alle, welche sich um mich als den Dichter der „Lieder der Unruh“ geschart hatten, und die, wann immer ich unter ihnen erschien, mir entgegengesungen hatten: „Wann wir schreiten Seit an Seit“. Ich war mit ihnen wieder und wieder am 1. Mai mit Fahnen und Musik durch die Straßenmitten auf den großen Festplatz im Volkspark gezogen und hatte mitgesungen. Meistens aber, da mir selbst die berühmte Internationale dem Wortlaut nach weder sinngerecht noch im Gedächtnis war, hatte ich nur mitgesummt. Denke ich heute darüber nach, so kommt das Ganze mir wie ein kindhaftes Spiel vor, darin ich als verkappter König im Takte meines eigenen Liedes hinter der Fahne schritt, oder wenn auf dem Festplatze von den Rednertribünen aus fremdem Mund meine eigenen Worte mir entgegen kamen:
„Wir wähnten eine Kette zu wissen
rund um die Erde. Nun ist sie zerrissen.
Schmiede, Schmied, schmiede! ….. [E 23]

So träumte die Einfältigkeit meines Herzens, aber die Wirklichkeit sah anders aus, und der Begriff der Gnade, die über uns auswählt und über uns handelt, erstand langsam in mir und machte mich einsam wie in sehr frühen Jünglingstagen.
Dr. Wilhelm Stapel besuchte mich. Er bat mich, etwas zu lesen. Ich traute meinen Versen nicht mehr recht. Ob ich nicht Prosa liegen hätte? Ich hätte zwar etwas liegen, sagte ich und zog das geschriebene Manuskript des „Meister Bertram van Mynden“ aus der Schublade und las. Wilhelm Stapel saß und hörte gespannt zu. Sobald ich eine Pause im Lesen machte, griff er lebhaft nach dem Papier und sagte: „Das ist gut, sehr gut sogar, das nehme ich sofort mit. Das drucken wir.“ Dieses Wir bedeutete die Hanseatische Verlagsanstalt, die dann das Buch stilgerecht und schön herausbrachte. Ilse entwarf den Einband. Franz Rompel, den 1943 die Höllenglut der Bombennnacht bei lebendigem Leibe verbrannte, ging mit mir in die Kunsthalle und fotografierte die verschiedenen Figuren des Altars. Ich weiß noch die scheue Andacht, mit der ich die liebliche Gestalt der geschnitzten Maria Magdalen, nachdem wir sie aus ihre Nische herausgehoben hatten, in Händen hielt. Als das Buch herauskam, ward es von der Kritik allgemein wenig beachtet. Eine scharfe Beurteilung von Dr. Rosa Schapire schalt das Werk als eine völlig überflüssige Arbeit voller kunsthistorischer Verkehrtheiten und nahm ihm damit für Hamburg den Boden unter den Füßen weg. Und der Direktor Pauly gab sein Amen dazu. Aber bald danach erlebte ich die ungeheure Freude, dass Adelbert Alexander Zinn, der damalige Pressechef Hamburgs, mich aufsuchte, meine beiden Hände ergriff und sagte: „So ein Buch, lieber Claudius, haben wir seit zehn Jahren nicht mehr gehabt. Ich danke Ihnen. Und kümmern Sie sich nicht um die andern.“ Franziska, die dabei stand und die allein von der Entstehung des Buches wusste, sah mich mit großen Augen an. Und ich wusste jetzt um das Eine. Erst das tiefe Aufgewühltsein meiner Seele, das ich in den Gedichten der Heimkehr und den Besinnungen des Meister Bertram überwand, hatte mich den festen eigenen Grund finden lassen. Ich hatte die große Einsamkeit des Ich erlebt und die Gotteskindschaft erfahren, die allein aus dem Christentum erwachsen kann und ohne welche jene Einsamkeit nicht zu ertragen ist. Von dieser Erkenntnis zeugt der Abgesang in der Heimkehr:
Ich hebe meiner Seele Schale,
o Herre, Dir mit Händen hin . . . . . [H 114]
Es reizt mich doch, die Kritiken pro und contra einander hier gegenüber zu stellen:
(folgt: 1. Hans Wolf: Wenn ich recht viel Geld hätte ….
2. Rosa Schapire: Fast scheue ich mich…

(Eine vlämische Übertragung wird in Antwerpen im Verlag De Poorte 1952 erscheinen. Eine gleiche ins Tschechische ward 1941 durch die Wendung des Kriegsglücks vereitelt.)

IV.
Es mutet wie eine Fügung an, aber es war immer so: wenn ich an einer Wegscheide meines Lebens stand, trat mir ein Mensch entgegen und half, als sei es sein Auftrag. Dem Knaben war das Märchenauge des lieben Onkel Eduard, dem kindlichen Zeichenkünstler danach die Begeisterung des kleinen Doktor Zeckendorff, dem Konfirmanden gab der Professor Otto Perthes die Entscheidung. Die erste Begegnung mit Hans Grimm erlöste mich aus dem Frontkrieg, dem ich, das glaube ich heute noch, sonst erlegen wäre. An der Stelle meiner religiösen Entscheidung muss ich Dr. Wilhelm Stapel nennen, wenn auch mehr als Bestätigenden. Was mir als Knabe und Jüngling noch unbewusst Mittelpunkt meines Wesens bedeutet hatte, das Gefühl der Geborgenheit, gab mir der Umgang mit Wilhelm Stapel aufs neue zurück, und zwar in der Klarheit männlicher Erkenntnis. Ohne es zu wissen, war ich schon in meiner Heimkehr zu ihm auf dem Wege gewesen. Davon zeugt das Gedicht „Nachtgefühl“
Herr, Deine Dunkelheit erschreckt mich sehr.
Die Erde ist ein winziger glüher Tropfen . . . . . . [H 110]
Ich begann im „Deutschen Volkstum“ zu lesen, jener nationalen Zeitschrift, welche Dr. Stapel gegründet hatte und leitete. Ich erkannte darin seinen Scharfsinn und seine Belesenheit und die Unerschrockenheit seines Bekennens. Ich erfuhr bei gelegentlichen Besuchen auf dem Sandkamp 5, wo Dr. Stapel mit seiner Frau Martha und dem Sohne Henning hauste, dass dieser Gelehrte außer dem üblichen Latein und Griechisch etwas Hebräisch, gut Französisch und Englisch, etwas Italienisch sprach und dazu das Gotische und Alt-Sächsische beherrschte. Und nun überraschte mich das Wunder: dass dieser Gelehrte und Vielbelesene mich Ungelehrten wegen meiner Verse offenbar schätzte. Das war mir ein Rückhalt, der sich oft bewähren musste — und sich bewährt hat.
Stapels tiefe evangelische Frömmigkeit erfuhr ich erst langsam. Sie verbarg sich gern hinter seiner Gedankenschärfe und einer schillernden Ironie, die zwar immer nur die Dinge dieser Welt betraf.
Um Stapels Bedeutung für meine dichterische Haltung deutlich werden zu lassen, überspringe ich jetzt zwei Jahrzehnte. Es war nach dem Zusammenbruch 45 und inzwischen die große Cäsur, die meine Geltung als Dichter betraf, geschehen: Hans Grimm hatte bei dem mächtigen Verlage Langen-Müller in München eine Auswahl meiner Lyrik unter dem Titel: Meine geliebten Claudius-Gedichte 1932 erscheinen lassen. Seit 1942 war mit dem Abschluss der Sonette mein Schaffen durch die allgemeine Erschlaffung erschöpft und leergelaufen. Chaotisch zerfiel Deutschland. Nichts hatte noch Bestand. Da ward mir in einer Notnacht das Gedicht, das ich nur Deutschland nennen konnte:

Ein Volk, das Gott gewollt
kann nicht vergehn.

Ein Volk, das Gott gewollt,
das muss bestehn.

Ein Volk, das Gott gewollt,
was auch geschah —

Ein Volk, das Gott gewollt,
das bleibt I h m nah.

Ein Volk, das Gott gewollt,
das wächst ihm Leid.

Ein Volk, das Gott gewollt,
hat Ewigkeit.

Ein Volk, das Gott gewollt,
das schweigt und weint.

In seiner Tränenflut
ertrinkt der Feind.


Am Sandkamp las ich das Gedicht vor. Wilhelm Stapel bat sofort um die Niederschrift. Sie hängt jetzt noch an der Wand seiner Arbeitsstube hinter Glas und Rahmen. Dann bekam ich einen Brief, worin er von den sieben Donnern schrieb und von dem nachfolgenden shakespeareschen Regenguss, in den sie sich lösen:
Wilhelm Stapel Hamburg-Gr.Flottbeck, 16.10.1945
Lieber Herr Claudius.
Ich hab‘ mir überlegt, worin der Reiz Ihres Gedichtes vom 4. Oktober eigentlich liegt, und bin dabei auf Folgendes gekommen: Erstens. Der Grundvers enthält zwei offene, kurze o: Volk, Gott, gewollt. Das hat etwas wie fernes Donnerrollen, etwas Majestätisches und Drohendes. Zweitens. Siebenmal donnert es aus der Ferne. Man meint, nun müsse ein scharfer Blitz daherschmettern. Aber statt dessen bricht plötzlich eine Regenflut daher, eine geradezu shakespearische Regenflut, eine barocke Regenflut von Tränen, die den Feind hinwegschwemmt. Dieser Schluss nach dem gleichförmigen Grollen und Rollen ist wunderbar. Drittens ist bemerkenswert, dass die Götterzeile mit dem männlich-kurzen Wort „gewollt“ schließt, während alle Reimzeilen zwar männliche, aber lange Silben am Schluss haben, sie fluten aus. Es ist wirklich ein kristallisiertes Gedicht, es hat echte Form.
Es kommen fast täglich Leute, Gelehrte, Schriftsteller, aus der Bahn geworfene Jugend, alle mit schweren Fragen auf dem Herzen. Nur von unserm Sohn — nichts. Niemand kann sagen, warum eigentlich nun nach der Besetzung kein Briefverkehr von und nach den deutschen Kriegsgefangenen drüben in Amerika mehr erlaubt ist. Hängt das damit zusammen, dass keine amerikanischen Kriegsgefangenen mehr in deutschen Händen sind? Manche meinen das. Aber das wäre keine christianity, es wäre nicht einmal humanity.
Ich würde gern einmal wieder mit Ihnen sprechen. Hans Grimm, hörte ich eben, ist mit seinem neuen Buch fertig. Ich noch nicht. Ich stehe bei Kapitel 27 und 28 (jedes halb fertig). Es sollen 30 werden. Aber das ist erst das erste Konzept, dann fängt die Durcharbeitung an. Nun, einstweilen kann ja doch nichts gedruckt werden.
Herzliche Grüße Ihr Wilhelm Stapel

Ich hatte meine Freude an dieser Anerkennung. Die sieben Donnerwetter, die mir nun erst in ihrer Siebenzahl zur Erkenntnis kamen, brachten mich auf den Gedanken, sieben deutsche Gedichte zu schreiben, woraus dann in schneller Folge sieben mal sieben Gedichte wurden. Hinter dem Ganzen stand der Wille, entgegen dem damals überall sich breit machenden Notgewimmer in positivem aufbauendem Sinne zu schaffen: wohl sieben Verse der Not voran, gewiss, aber dann Naturlieder, Verse christlicher Gläubigkeit, Kinderfreude (Andi Griesbach hat köstliche Kinderlieder daraus gemacht), Liebeslieder, Verse des Geistigen und zuletzt noch einmal als Widerhall solche der dunklen Zeitspanne. Das Buch erschien mit einigen Wortänderungen 1947 bei C. Bertelsmann, Gütersloh unter dem Titel „Nur die Seele“ — sieben mal sieben deutsche Gedichte. Die Schlusszeilen des Gedichtes: „Ein Volk, das Gott gewollt“ erhielten darin folgende Fassung:
Ein Volk, das Gott gewollt,
das darf es wagen,
die wunde Seele
vor ihn hinzutragen. [N 16]

Meine junge Frau, ich war seit 1944 wieder verheiratet, zeichnete in die Pausen zwischen den Siebenerreihen der Gedichte ihre graphischen Blätter, sozusagen als Siegel auf das Wagnis unserer Ehe
Wenn ich schon in meinen Sonetten „Aldebaran“, die zwar zum größten Teil von Bomben vernichtet wurden und wenig verbreitet worden sind, mich zum Christentum deutlich bekannt habe und darauf in „Nur die Seele“ sieben Gedichte geschlossen dem Glauben darbrachte, so lauert dennoch im Grunde meiner Seele seit jeher ein pantheistischer Zug, der alle Kreatur von Gott umfangen wissen möchte, Menschen jeglichen Glaubens und Baum und alles Getier und Mond und Sterne und dem der Begriff „Sünde“ sehr ferngerückt ist.
In dieser Richtung ist für mich die Gestalt des Gelehrten von Weltruf, Baron Jakob von Uexküll, wesentlich geworden. Er war wenige Jahre am Primelweg 8 mein Nachbar. Der fast zwei Meter große breitschultrige Mann mit dem mächtigen weißhaarigen Löwenhaupte achtete mich als Poeten. Wir erlaubten uns, einander zu grüßen. So möchte ich es nennen. Denn Uexküll grüßte ansonsten auf seinem Wege nach der Hochbahn und zurück zum Primelweg keinen Begegnenden. Ich sehe ihn noch in seiner schwerfälligen Art etwas vorgebückt langsamen Schrittes an meinem Garten vorbeigehen und den Kopf drehen, ob ich irgendwo zu bemerken sei. Ich wusste um seine Vorbeigehzeit und war sommers gern am offenen Fenster oder in der Gartenlaube und verneigte mich. Und der Herr Baron zog höflich seinen breitkrämprigen Hut und hatte jenes Lächeln um Mund und Augen, das weither kam und einen Humor offenbarte, der um alle kleinen Schwachheiten der Menschen wusste und sie in Güte hinnahm, nicht ohne eine Schelmerei, die ihm leicht um die vollen Lippen spielte. Er war Balte und hatte nach Versailles alles verloren. Aber er war der Umwelt-Uexküll und stand als Gelehrter seinen Mann.
Es ist etwas von der Begegnung mit ihm in meinen Meister Bertram übergegangen, sowohl im Ganzen betrachtet wie auch darin, dass ein Gespräch über die drei Sonnen des Igels, des Gheseken und des Meisters am Grabe des Gretelin zu Sankt Jakob auf eine Unterhaltung mit Uexküll an der Ecke des Primelwegs zurückgeht: [vgl. MBa 103]
Gingen zu Sanct Jacobum ans Grab des Gretelin. miner weiland lieben Frauen, das Gheseken unde ich. War sins Fragens müd. – – – – – – – – –
Sahn in die sinkend Sunn. Krauchet unter dem Rosenbusch, so voll füerroter Butten hing, ein Igel herfür; schnuppert nach uns. Wend’t sich, richt’t sich auf sine Hinterläuf, blinzlet desglichen in die sinkend Sunn. Das Gheseken hatt ihn nicht vermerket. Ließ sin Augen weiter an der Sunn hangen. Starreten alle drei.
Dacht ich still bei mir selbsten, maßen die drei Sunnen nimmer ihr Leuchten mochten ineinander geben: des Igels sine, des Gheseken sine unde min eigen Sunn. Wird also mit jeglicher Kreatur ein neue Sunn geboren unde ein neue Welt. Unde können alle niemalen zueinander. Wär also ein arg Wirrsal auf Erden ohn End, wann nicht wär alls aus des E i n e n ewiger Lieb ausflossen, Sunn unde Erden, Leben unde Tod.

Im Frühling 1928 nahm ich an einem Umwelt-Praktikum unter Professor Jacob von Uexküll im Hamburger Zoo auf seine Einladung hin teil. Ich erstaunte über die völlige Zwanglosigkeit, in der hier die Erarbeitung des Beobachtungsstoffes vor sich ging. Uexküll selber hielt sich am Rande, obschon jeder der jungen Studenten ungewusst, wie ich selber auch, unter dem starken Fluidum stand, das von ihm ausstrahlte. Es handelte sich um die sexuelle Reagenz des männlichen Kampffisches, der sofort mit gespreizten Flossen dem Männchen der gleichen Art seine aufleuchtende Breitseite zeigt, sobald dieser Gegner ihm zu Gesicht kommt. Uexküll ließ nun den Boden des Aquariums mit einem Spiegel auslegen. Der Kampffisch versuchte krampfhaft immer wieder in waagerechter Lage zu schwimmen, um den vermeintlichen Gegner abzuschrecken. Die jungen Herren amüsierten sich über des Fisches vergebliches und unnützes Abmühen einem Spiegelbild gegenüber. Schließlich meinte Uexküll: „Lächeln Sie nicht, meine Herren! Wir selber sind über die Wirklichkeiten oder Unwirklichkeiten unserer Umwelt sehr oft nicht besser im klaren als dieser kleine Fisch!“
„Claudius“, sagte der alte Uexküll zu mir, als er anfing, kränklich zu werden, „kommen Sie mit mir nach Capri. Da ist Sonne, Sonne das ganze Jahr. Und die brauchen wir, wenn die innere Sonne uns nicht mehr genug durchwärmen will.“ Nach Capri reichte meine Verbindung mit ihm nicht mehr. Ich las danach während des Krieges, dass er gestorben sei. Aber was will das schon heißen? Lächelt er nicht in diesem Augenblick auf meine Zeilen herab mit jenem weltmännischen Wohlwollen, das weit herkam und um die gottgewollte Heiterkeit wusste, ohne welche die Erde arm wäre?

Ein Jahr nach Erscheinen meines Meister Bertram ist mir noch eine besondere Köstlichkeit passiert: ich kam mit meiner Schulklasse aus dem Fährdampfer gestiegen, der uns vom Wittenberger Freibad zurückgebracht hatte. Ich verabschiedete mich von den Jungs. Dabei muss wohl mein Name laut zu hören gewesen sein. Denn plötzlich kam ein älterer Mann auf mich zu und fragte mich: „Sind Sie der Hermann Claudius, der den Meister Bertram geschrieben hat?“ Ich bejahte. Da fiel er mir vor allen Leuten beinahe um den Hals und beteuerte, dass der Meister Bertram sein liebstes Buch geworden sei und er mir dafür zu unendlichem Dank verpflichtet wäre. Ich wehrte ab, soviel ich nur konnte, aber ich muss doch sagen, dass es mich heiß überlief und mir mehr war, als jede noch so gute gedruckte Kritik. Der Mann kam nicht dazu, mir seinen Namen zu nennen.
Wenn ich von den Büchern Heimkehr und Meister Bertram wie von Meilensteinen am Wege meiner Wandlung gesprochen habe, ist das nicht so zu verstehen, als ob nun damit alles schön gerundet und in Ordnung gewesen wäre, was mein Inneres anging. Vielmehr war das auch nachher immer wieder ein Zurückschwanken, mehr oder weniger weit und tief. Dafür ist der Versband bezeichnend, der 1928 herauskam: „Der ewige Tor“. Darin steht das Gedicht „Tantalus“. Es versucht, das Dämonische des Schöpferischen deutlich zu machen, das Unerlöste, das darin begriffen ist:
Ich lief an das Meer, das Meer: und hörte das Lied.
Ich lief ins Gebirg: und hörte, hörte das Lied . . . [T 41]

Desgleichen früher: Trunkenes Lied (1925 in „Heimkehr“)

O heilige Trunkenheit in mir,
die tiefer ist denn alle Trunkenheit aus dem Wein . . [H 15[

Und darin steht: Parkszene – Einsamer Park
Mein Werk, du fressende Flamme in mir,
die mich stückweis‘ verzehrt: . . . . [T 43]

Wenn auch dieses Buch das „Abendlied“ beschließt, als ob es der Urahn mir zugeraunt habe, riet Alexander Zinn mir damals, das Buch „Lieder in den Wind“ zu taufen, weil ihm ein Gedicht darin besonders wesentlich für meine Art erschien, das:
Lied in den Wind.
Rollende Unruh in mir seit Landsknechtstagen,
muss ich dich ewig in meinem Blute tragen? ..[T 63]

Bei diesem Lied muss ich der Hamburger Künstlerfeste jener Jahre gedenken, die in allen Räumen des Curiohauses stattfanden, mehrere Nächte hinter einander währten und die wir, die älteren Töchter eingerechnet, mitgemacht haben. Ich pflegte den Li-Tai-Pe nachzuahmen, wozu meine lange Gestalt und mein schmales Gesicht gut anließen.
Ein purpurroter Pyjama umhüllte mich. Ein mit Goldpapier überklebter Kegelschnitt umgab die eng anliegende Kappe wie ein Heiligenschein. Franziska machte eine Odaliske, die Töchter exotische Gestalten, je nach Phantasie und dem Thema des Festes. An solchen Abenden oder Nächten sah ich zuerst den Erbauer des Chilehauses Fritz Höger in seiner aus Ankara mitgebrachten echten Seidentracht eines türkischen Paschas. Da war der Professor Hans Much in weitem dunkelblauem Sammetmantel. Und da sah ich auch den Bildhauer Professor Richard Luksch durch den wirbelnden Strom der Tanzenden, durch den jähen Wechsel von blauem, rotem und gelbem Scheinwerferlicht rasen, um eine Tänzerin zu erreichen, deren Gestalt ihm in die Augen gefallen war. Ich war dabei, als Ewald Gerhard Seeliger eine Riesenpulle Sekt, die er auf der Tombola gewonnen hatte, einfach knallen ließ und dann lachend jeden, der mit seinem Glas hinzukam, mit dem schäumenden Sprudel tränkte.
Inmitten dieses Taumels konnte es mir geschehen, dass ich plötzlich ernüchtert und fremd dazwischenstand und mich ein Frösteln überlief. Einmal bin ich in solchem Augenblick in meinem flatternden Feuergewand in die Winternacht hinausgestürmt, um dann zwar wieder zurückzukehren und mich nur desto toller in den Tanzwirbel zu stürzen. Ein ander Mal hockte ich bei einem Mädchen nieder, mit dem ich getanzt hatte, und hieß es „grüne Schlange“ und beichtete ihm meines Herzens Verzückungen in ekstatischen Sätzen. Die grüne Schlange blickte mich an, näherte ihre grell bemalten Lippen meinem Ohr und haucht nur: „Törichter Knabe du, küsse mich!“ Und dann tanzten wir wieder.
Und Gustav Gründgens war da, jung und emphatisch, und Paulchen Kemp, der plötzlich irgendwo laut rezitierte, und Otto Erich Ziegel, der gnädig tat. Und der dicke reiche „Silbermann“ Wilckens vom Jungfernstieg lief in seltsamer Positur rücklings und tanzte auch so, weil er sich nämlich seinen Smoking mit der Vorderseite nach hinten hatte bauen lassen.
Wir alle hatten wenig Ahnung, dass diese übersprudelnden nächtlichen Feste eigentlich schon ein Tanz am Abgrund waren. Seltsamerweise schrieb ich nach einer dieser Nächte das Gedicht:

Dämonische Nacht.
Blitze fallen. Donner rollen.
Kommt, wir wollen
hoch die vollen
Becher heben!
Rausch ist Leben.
Alle Weisheit wird zum Lallen.
Donner rollen. Blitze fallen.
Und wir müssen uns ergeben. [T 64]

Einmal, ich glaube 1928 im „Prisma im Zenith“, stand mir mitten im Tanzwirbel ein zweiter Li-Tai-Pe gegenüber. Es war der lange Hans Leip, damals noch mehr der Graphiker als der Poet, weshalb er denn auch in seiner saloppen Art meinte: „Was willst du eigentlich hier? Du bist doch gar kein Künstler“, worunter er eben Maler und höchstens Musiker verstand. Wie denn auch die „Hamburger Gruppe“, die hinter dem Künstlerfest stand, Fritz Höger, den Architekten, Tetjus Tügel, den Maler, Hanns Henny Jahnn, den Orgelbauer, und Richard Luksch, den Bildhauer, zu den ihren zählte. Dagegen gehörte ich zu jener Tischrunde, welche sich an jedem Donnerstagnachmittag im Teeraum des Kaffee Vaterland am Alsterdamm versammelte und so etwas wie das geistige Hamburg sein wollte: Max Meumann vom Fremdenblatt, Ludwig Benninghoff vom Theaterkreis, Fritz Brehmer, Generalkonsul für Süd-Afrika, Albert Mähl, der Balladendichter, und Adolph Wittmaack, der Schweigsame. Wir saßen am runden Tisch unter dem Baldachin. Besonders lebhaft ging es zu in Rede und Widerrede, sobald eine fremde Größe vom Auslande bei uns zu Gast war. Wenn mir das Gespräch zu hochgeistig wurde, stahl ich mich beiseite und amüsierte mich im Kaffeeraum über das Kabarett.
Ich möchte an dieser Stelle einmal überschlagen, welche deutsche Dichtung auf mich, namentlich in jüngeren Jahren, von bestimmendem Einfluß gewesen ist.

Es muss zwischen dem vierten und fünften Lebensjahre gewesen sein, als meine Mutter mir die Hey’schen Fabeln aufsagte:

Was ist das für ein Bettelmann?
Er hat ein kohlschwarz Röcklein an
Und läuft in dieser Winterzeit
Vor alle Türen weit und breit,
Ruft mit betrübtem Ton: „Raab! Raab!
Gebt mir doch auch einen Knochen ab!“

Ich horchte auf und hörte immer wieder zu, bis ich die Reihen auswendig wusste. Und von dem Augenblicke an hatte jede Krähe für mich etwas Persönliches gewonnen, s a h ich sie eigentlich erst. Dazu die Fabel vom Knaben am Vogelnest:
Knabe, ich bitt‘
dich, so sehr ich kann:
O rühre mein kleines Nest nicht an!
O sieh nicht mit deinen Blicken hin!
Es liegen ja meine Kinder drin;
Die werden erschrecken und ängstlich schrei’n,
Wenn du schaust mit den großen Augen herein! —

Von da an wusste ich, dass ich „große Augen“ hatte und stand oft nachdenklich „Auge in Auge“ vor unserm Mahagonispiegel, der an der Wand über Mutters Kommode hing. Heute muss ich, schlage ich die Fabeln mit den herrlichen Speckterschen Bildern wieder einmal auf und blättere darin, über die allzugroße Vermenschlichung lächeln. Aber der Zauber aus Kindheitstagen ruht dennoch darauf.
Ich nannte schon den Herrn Mester mit dem Gerstenkorn, wenn er uns Neunjährigen Schillers langes Lied von der Glocke auf seine seltsame Art rezitierte. Aber er sprach auch Verse von Hölty. Und diese müssen mich besonders stark berührt haben:
Wer wollte sich mit Grillen plagen,
solang uns Lenz und Jugend blühn?
Wer wollt in seinen Blütetagen
die Stirn in finstre Falten ziehn?

Ich könnte alle drei Strophen wörtlich herschreiben, so sicher sind sie mir durch über siebenzig Jahre im Gedächtnis geblieben. Mit dreizehn Jahren schwärmte ich für Freiligraths:
Wüstenkönig ist der Löwe. Will er sein Gebiet durchfliegen,
wandelt er nach der Lagune, in dem hohen Schilf zu liegen.
Und besonders war es jene Stelle, die mich mit dem Klingen ihrer Vokale trunken machte:
Wo Gazellen und Giraffen trinken, kauert er im Rohre.
Zitternd über dem Gewalt’gen rauscht das Laub der Sykomore.
Die Seminarzeit war auch für meine Empfänglichkeit für Dichtung eine tote Zeit. Als junger Lehrer fand ich zu Hölderlin, in dessen Dichtung die Kindhaftigkeit Höltys rhythmische Gewalt gewann und dessen Überschwänglichkeit irgendwie verwandt war:
Da ich ein Knabe war, rettet‘ ein Gott mich oft
vom Geschrei und der Rute der Menschen.
Da spielt‘ ich sicher und gut
mit den Blumen des Hains.
Und die Lüftchen des Himmels
spielten mit mir.

Das war ich selber, wie ich als Siebzehnjähriger im Luruper Moor gelegen hatte. In ihm lebte die ungeheure Sehnsucht schöpferischer Gestaltung, die ich ungewusst in mir trug:
Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!
und einen Herbst zu reifem Gesange mir,
dass williger mein Herz, vom süßen
Spiele gesättigt, dann mir sterbe.
Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht
nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht —
Doch ist mir einst das Heilige, das am
Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen:
Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!
Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel
mich nicht hinabgeleitet. Einmal
lebt ich wie Götter. Und mehr bedarf’s nicht.

Da ich gerade damals wieder anfing, Verse zu schreiben, hätte Hölderlin mir gefährlich werden können. Ich blieb aber bewahrt davor, sein schlechterer Nachtreter zu werden, weil ich viel plattdeutsch dichtete, zum andern aber aus meiner nordischen Herkunft heraus härter war. Als ich 1919 meine „Hamburger Hymne“ geschrieben hatte, wies mich Dr. Wilhelm Stapel darauf hin, dass ich damit den Anschluss an die mittelalterliche Versform eines Wolfram von Eschenbach beschritten hatte, weshalb sich diese Hymne nicht recht nach gewohnter Art skandieren lassen wolle:

Deiner Kräne Riesenarme betreu‘n Dir zu Füßen das Meer.
Dein Atem geht vollgeruhig, sicher und arbeitsschwer.
Dein Wort uhd Wille wandert unaufhaltsam wie Ebbe und Flut.
Nordisch karg ist dein Lachen und langsam dein Blut,
Hamburg.

Ewig kämpfst du den währenden, gärenden Kampf zwischen Herren und Knecht.
Kämpf du ihn seegeweiteten Blickes, heilig und recht.
Tausend Lichter in deinem nächtlichen Hafen schwanken und glühn.
Abertausend schwielige Arbeiterhände sich um dich mühn.
Hamburg. [T 7]

Diese Hymne wurde sehr bald ins Spanische übertragen:
Himno a Hamburgo
De tus gruas los brazos gigantes guardan a tus pies el mar.
Fuerte y calmo y seguro, intenso de trabajo, es tu respirar.
Como el mar, no reposan tampoco tu designio y voluntad,
Sobria es tu nordica risa, pausada tu sangre va . . .
Hamburgo!
Siempre luchaste la inquieta eterna lid entre siervo y señor,
Sostenla, santa y justa, vuelto al mar immenso el ojo avozor,
En tu puerto, en la noche, se entremecen las luces y brillan.
Por ti callosas manos a miles productos encastillan . . .
Hamburgo!
Levantan para tu ávida playa del trópico la carga ufana:
Valparaiso, Pekin, Manila, Sydney, La Habana.
Por ti gran muchedumbre día labora:
De elle cual de tus propios híjos, sabe madre y señora . . .
Hamburgo!
Por tus enormes muelles bañanse en nueva luz riquezas a granel,
La ignoran tus viejas altas torres San Nicolas, San Pedro y San Miguel.
De grado el alma hanseatica inclina al naciente fulgor
Y gloriose entre nobles ciudades será tu esplendor . . .
Hamburgo!
Hermann Claudius 1919
Übertragen von Dr. Llorenz, Lektor der Univ Freiburg 1927

Es war an einem Abend der Weimarer Dichtertage 1940 zu Tiefurt, als ich mitten zwischen Kriegserzählungen junger Soldaten, die zwar großenteils Poeten waren, am lodernden Kaminfeuer jenes „Wiegenlied beim Mondschein zu singen“ des Wandsbecker Boten sprach, wobei mir selber erst klar zum Bewusstsein kam, wie sehr ich in der Seele ihm verbunden war:
So schlafe nun du Kleine!
Was weinest du?
Sanft ist im Mondenscheine
und süß die Ruh.
Auch kommt der Schlaf geschwinder
und sonder Müh.
Der Mond freut sich der Kinder
und liebet sie. etc . . . .

Als ich geendet hatte, war es still um uns und alles Kriegerische ausgelöscht. Karl Heinrich Waggerl ließ ein paar dunkle Akkorde auf seiner Laute erklingen und drückte mir stumm die Hand.
Soll ich ihn noch nennen: Theodor Storm, der über die Mutter des Matthias Claudius meines Blutes ist?
Es ist so still. Die Heide liegt
im warmen Mittagsonnenstrahle – –

und: Das macht, es hat die Nachtigall
die ganze Nacht gesungen – –

und Eduard Mörike:
Du bist Orplid, mein Land,
das ferne leuchtet – –

Erst spät kam Klaus Groth hinzu:
Ick wull, wi weern noch kleen, Jehann.
Dar weer de Welt so grot.
Wi seten opn Steen, Jehann,
weeßt noch, bi Nabers Sod.

Auf Pellworm nach dem zweiten Weltkriege beim Schulmeister Balzer auf Nikark hörte ich das Lied singen. Die blonde Tochter sang die zweite Stimme in einem volltönenden Alt – – das war Urklang, Ursprache niederdeutscher Erde. Groth’s Quickborn hat seither seinen Ehrenplatz in meiner Bibliothek, und Otto Speckters Lithographien sind nicht davon fortzudenken.
Und — wenn’s mich packt — werfe ich mich lingelank auf meine Couch und blättere im Poggfred des Detlev von Liliencron:
Es war ein Wintertag, der Märzschnee schmolz.
Und an den nackten schwarzen Stämmen rann
die Feuchtigkeit und malte grün das Holz.
Schon wäscht und koppelt Freya ihr Gespann.
Die ersten Frühlingsfahnen flattern stolz.
An Baum und Pflänzchen putzt der Wurzelmann.
Erstaunt erwachen Fledermaus und Kröten.
Die Knaben schnitzen erste Weidenflöten.

Die Deutschen nennen keinen Dichter Künstler.
Künstler sind Maler, Musiker, Athleten.
Und wär er auch des größten Königs Günstler,
ein Dichter „schadt nix“. Künstler sind vertreten
im Zirkus, Flohtheater. Und ein dümmster
(der Reim ist falsch!) Tenor wird dem Poeten
stets vorgezogen. Klagt nicht! Eine Zeit
kommt auch für euch einst. Atmet auf! Bereit!

Und wann, ich frag euch, kommt einmal die Zeit,
dass man statt eines Leitartikels Öde
(bleibt mir mit Politik vom Hals!) Neuheit
von einem Dichter hinnimmt? Spröde
erwägt der Redakteur die Nützlichkeit.
Poet, du bist vertagt, verlassen schnöde,
wie einer, der in Hamburg wohnt, verloren,
wenn — Fluch! — er ohne Regenschirm geboren.

Was die Prosadichtung angeht, so war ich als Dreizehnjähriger auf Immermanns „Oberhof“ schier versessen und erst recht auf die vielen bildlichen Darstellungen, mit denen der Roman durchsetzt war. Ich sehe noch die starkbrüstigen, derblendigen Mädchengestalten im Geiste vor mir und jene überschatteten Bauerngehöfte, die mich an das verlorene Paradies gemahnen wollten. Bald danach war es Ganghofers „Martinsklause“, die mich bis in den Traum hinein verfolgte: die brutale Gestalt des Herrn Waze auf dem hohen Watzmann und die herbe Gestalt der Recka, in die ich mindestens so verliebt war wie der Fischer in dem Roman. Ich las mit starkem inneren Anteil den „Meister Brugnon“ des Romain Rolland in deutscher Übersetzung. Immer wieder habe ich die Sterbeszene der Alten gelesen und jene heidnische Stelle der Errettung der kleinen Glodie. Ähnlich ergriff mich danach Kolbenheyers „Meister Joachim Pausewang“. Er selber, der (allerdings viel später) mir gut Freund ward, nennt meine Erzählung „Meister Bertram van Mynden“ wegen deren archaisierenden Sprachform scherzhaft sein illegitimes Söhnchen. Aber da irrt er. Als Fünfzehnjähriger wohl habe ich die „Bernsteinhexe“ des Wilhelm Meinhold verschlungen und gleich hinternach noch seine „Sidonia oder die Klosterhexe zu Borck“. Und deren altertümlicher Stil hat mir heimlich im Ohr gelegen. Heute ist Freund Hans Carossa als Erzähler der liebste, vielleicht darum, weil seine behutsame Art den Leser völlig frei lässt. Hans Grimm nicht zu vergessen, erschütternd in seiner Knappheit. Für mich ist seine „Olewagen Saga“ die deutscheste Liebesgeschichte, die ich kenne, und sein „Richter in der Karu“ d i e Novelle einer unverstandenen Ehe.

V.
So kam mein fünfzigster Geburtstag heran. Um halbneun Uhr morgens schon kam Bürgermeister Rudolf Ross, mein ehemaliger Berufskollege, mit Alexander Zinn, dem Pressechef, als Begleiter im Senatswagen am Primelweg an und gratulierte. Ich war noch kaum in der Hose und unrasiert. Ross tat sehr väterlich und so, als ob es sein persönlicher Besuch sei. Aber Alexander Zinn verlangte lächelnd nach einem großen weißen Bogen, den er seinem Bürgermeister vorlegte, damit der im Namen des Senats seine Gratulation eintrage. Darauf gingen sie. Der Riesenstrauß von braungoldenen Chrysanthemen mitten auf dem Tisch blieb zurück und prächtete. Danach wurden die beiden kleinen Stuben nicht leer von Gratulanten. Am Nachmittag sahen sie aus wie ein vollgestopfter Blumenladen. Meine Frau war in ihrem Fahrwasser und leuchtete und kannte bei dem ewigen Kaffeekochen keine Ermüdung. Da ich seit 1926 das Haupt des Claudius-Familientages war, stellte sich auch fast die gesamte Verwandtschaft ein. Gegen Abend fuhren wir in das Rundfunkgebäude der Norag, deren beide führende Herren, Dr. Kurt Stapelfeldt und Dr. Hans Böttcher, bereits um Mittag dagewesen waren mit einem blumengezierten Körbchen voll gut trinkbarer Dinge. Am Mikrophon hielt Alexander Zinn die Rede, der Barmbecker Volkschor unter Friedrich Weigmann sang meine Lieder, von denen manche schon populär geworden waren: „Achtern Hollerbusch“, „Sratenmusik“ und „Lüttstadt“. Dann sollte ich selber sprechen. „Bitte nur kurz!“ sagte der Intendant Hans Bodenstedt, er kannte meine Art und hatte Angst, irgendein verrückter Einfall könnte das “hohe Niveau“ des Abends, wie er sich ausdrückte, verderben. Ich wollte nämlich zuerst meine jüngste Tochter ansprechen, die krank zu Bett lag und am Radio zuhörte. Aber das durfte ich natürlich nicht. Ich sagte aber trotzdem, während Hans Bodenstedt mich dauernd anstieß, dass ich mir vorkäme, als müsse ich mich durch lauter Schlagsahne hindurch fressen, ehe ich zu meinen Hörern gelangen könnte. Am Primelweg wieder angekommen, wartete dort Fritz Voss mit seinem Jugendchor, und „Wann wir schreiten Seit an Seit“ klang kräftig in die Nacht hinaus. Ich stand am Hauseingang, auf dem Söller, wie wir ihn scherzhaft nannten, und freute mich, dass es dunkel war. Denn es war mir nicht so ganz sicher um die Augen. Vor dem Einschlafen — es war lange nach Mitternacht — lag es mir schwer auf der Seele, was ich alles noch zu schaffen hätte, um dem Sinn dieser Feier wenigstens nachträglich einigermaßen gerecht zu werden. Denn ich wusste wohl um jenen Zwiespalt in mir. Einmal drängte es mich nach Anerkennung und führte und verführte meine Feder zu Dingen, hinter denen ich nicht immer völlig stand. Zum andern kannte ich das Gefühl der Einsamkeit vor Gott, vor dem Menschenruhm nicht gilt und auch nicht Menschenwerk, vor dem die Ehe nicht nur Kameradschaft ist, wie es überall so schön geredet wird, sondern Sakrament, ja: vor dem Werk und Leben sich sehnen, Sakrament zu werden.
In dieser Zeit ungeheurer innerer Spannung war es für mich eine gute Ablenkung, dass ich mit Hermann Leo Köster und Guido Höller und Gustav Schwantes zusmmen an die neu gegründete Volkshochschule gerufen wurde. Ich war davon überrascht und fühlte mich sehr unsicher und hatte viel zu erarbeiten und war auch mit Leib und Seele dabei. Und war an manchen Abenden, wenn ich nach Hause kam, wie ausgepumt und leergelaufen. Vier Jahre entstand auf solche Art nichts wirklich Dichterisches, wenn auch ab und an ein Gebrauchsgedicht zur Maifeier lebhaften Zuspruch erweckte, wie dieses, das mit Bebilderung vorn im „Hamburger Echo“ (1921) die halbe Seite füllte:
Unter schwerverhangnen Himmeln
woll’n wir dennoch Zimbeln schlagen,
woll’n wir dennoch Lieder singen,
woll’n wir dennoch nicht verzagen. . . . . [B 74]

In Klammern: ich habe dasselbe Gedicht danach am 15. Juli 1951 bei Hans Grimm auf dem Klosterhofe vor 3000 Hörern gesprochen.
Meine Mitarbeit am „Hamburger Echo“ umfasste gleichfalls Berichte über niederdeutsche literarische Abende und Aufführungen. Ich schrieb mein Urteil in aller Ehrlichkeit so nieder, wie es sich mir gebildet hatte, kam dadurch bald in hässliche Konflikte, vor allem mit dem „Quickborn“ und der „Nedderdüütsh Sellshopp“, die sich feindlich gegenüberstanden. So gab ich es bald auf zum Leidwesen meiner Franziska, die immer mit besonderem Behagen ihren gesicherten Platz in der Presseloge oder ganz vorn im Parterre eingenommen hatte. Durch meine Kritikerzeit ward ich mit Paul Wriede, dem Gründer des „Quickborn“ befreundet. Er gab in der Reihe seiner plattdeutschen Bücher auch ein schmales Bändchen von mir heraus, das ich „Vörsmack“ nannte. Darin steht meine kürzeste Vers-Biographe, we ich sie nennen möchte und hier anfüge, einmal darum, weil das Büchein längst verschollen ist, zum andern wegen des Schleiers der Maja:
Dod – Dod — Dod – –
As ick Kind weer,
leeg ick angstig int Bett
un hör dinen Patt,
höll de Hand vun min Moder
un düch mi seker . . . [Vo 34f]

In die zwanziger Jahre meiner journalistischen Zwischenzeit gehören auch jene Laienspiele und Jugendweihen, zu denen ich mich drängen ließ, halb und halb auch mit ihnen ging. Es war der jugendbegeisterte Kollege Max Zelck, der mich dazu ermunterte aus gutem Willen heraus. Eins dieser Spiele, von Hermann Erdlen musikalisch bearbeitet, fand einmal im nächtlichen Volkspark auf improvisierter Freibühne mit Fackelschwung, Chorgesang und Fanfarengeschmetter eine aufregende Darbietung, bei der ich allerdings nicht zugegen gewesen bin. Es war jene Zeit des krassen Liberalismus, die in jedem Dogma eine Bedrängung und Einengung menschlicher Geistesfreiheit erblickte. Und da ist mir eine köstliche Episode erinnerlich.
Mulhart hieß der gute Kollege und trug einen wallenden Herrgottsbart, sprach aber in der Musikhalle im großen Saale vor den versammelten Jugendlichen, die geweiht werden sollten, den Satz aus: Liebe Jugendlichen! Eines vorweg, ehe ich zu Euch rede: den Himmel mit seinem Herrgott haben wir ein für allemal abgeschafft. Es gibt keinen Gott.
Nach der Feier traf ich den Silberbart im Ausgang und gratulierte ihm, daß er sich zum Dogma bekehrt habe. „Was? Ich zum Dogma?“ rief er entsetzt, „was soll das heißen?“ Sie haben es deutlich genug ausgesprochen: Es gibt keinen Gott! Das ist ein Dogma, wie ich so hart kein anderes kenne. Der Herr Kollege fuhr sich verlegen mit der Rechten durch seinen Herrgottsbart und wusste nichts mehr zu sagen. Da musste ich lächeln und ging weiter. Dieser Zeit und diesen Leuten war das religiöse Empfinden abhanden gekommen. Sie waren nur und durchaus auf der Erde zuhause und ihr Sozialismus fand hier seine Auswirkung und seine Grenze. Sie meinten es bei alle dem herzlich gut mit ihrem Tun, jedem Genossen sein Stück Glück garantieren zu wollen. Als ich den Senator Emil Krause auf seinem Heideplätzchen besuchte, rührte mich seine Liebe, die er zu jeder Blume und jedem Bäumchen in seinem Garten im Herzen trug und ungewollt uns offenbarte. Ich meinte zu ihm gewandt: „So sind Sie im Grunde doch ein frommer Mann. Denn alle diese Pflanzen, die Sie lieb haben, sind doch nur Manifestationen eines Ewigen, das dahinter steht.“ Da sah er mich seltsam an und schwieg.
Franziska und ich wollten im Herbst 1929 zur Erholung in den Harz und aus Sparsamkeit per Rad. Unsere uralten Karren genügten dazu nicht mehr. So traten wir in einen Laden beim Hauptbahnhof und studierten die Marken, die dort ausgestellt waren, als ein Herr, der unser Gespräch belauscht hatte, meinte, in den Harz sei es mit dem Fahrrad viel zu anstrengend. Warum wir nicht ein Motorrad kaufen wollten. Das führe von selbst und trage uns beide. Der Gedanke überrumpelte uns. Der Herr empfahl uns eine nahe Firma und brachte uns selber hin. So kaufte ich mein Zündapp HH 28266, mit dem wir nach manchen gefährlichen Übungsfahrten wirklich den Harz besuchten und im Anschluss daran sogar den Inselberg im Thüringer Wald, ohne mit zerbrochenen Gliedern irgendwo liegen zu bleiben, wie es alle lieben Verwandten prophezeit hatten. Auf diesem Zündapp besuchte ich auch Gustav Frenssen in Barlt in Dithmarschen. Sein „Jörn Uhl“ hatte mich einstmals begeistert. Nun sah ich den Dichter selber zum ersten Mal und war etwas enttäuscht. Er hatte für Lyrik nichts übrig. Was solle und nütze die ganze Reimerei, man könne es besser und einfacher in Prosa sagen. Aber mich persönlich mochte er trotzdem. Das merkte ich gleich und ließ mir seine Scherze gefallen. Er sagte: es gäbe drei Gruppen Dichter. Die einen arbeiteten ehrlich wie andere Menschen auch. Das wären die Erzähler. Und dazu gehöre er und er schriebe alle Seiten auch richtig voll. Die zweiten wären solche, die ab und an arbeiteten, aber nur szenenweise. Das seien die Dramatiker. Die letzte Gruppe kenne aber überhaupt keine Arbeit. Und das wären die Lyriker, und dazu gehöre ich. Auf den Seiten ihrer Bücher ständen manchmal nur drei Reihen. Und dann sah er mich an, und der Schelm stand ihm im Gesicht, und er sagte, er hätte noch eine besondere Bezeichnung für mich: ich wäre der Eckensteher Gottes. Und das ließ ich mir geruhig gefallen.
Das Motorradfahren riss mich aus einem Idyll heraus, das seit 1910, mit Unterbrechung durch den ersten Weltkrieg, für mich und andere gegolten hatte: das Baden in der Alster. Da war an der Grenze zwischen Fuhlsbüttel und Hummelsbüttel die tiefere Drehkuhle, in die man als Schwimmer vom Ufer den Kopfsprung wagen durfte. Wir waren eine kleine Gruppe von Männern und Frauen, die im Sommer bei sonnigem aber auch bei Regenwetter hinter dem dichten Ellernhain zusammenkam. Die Einsamkeit und Schönheit des Platzes ersetzte uns durch manche Jahre die Sommerreise. Ab und an gesellte sich Wilhelm Lamszus zu uns, der Autor vom „Menschenschlachthaus“ und mit ihm Frau und Kinder. Da gab es manchmal zwischen ihm und mir in Sonne und Gras lange Kontoversen über das Wesen des Krieges und seine Notwendigkeit oder Verwerfung, wobei wir niemals zu einer Einigung kamen. Zu dem Idyll gehörte noch etwas mehr. Nach Versailles war es für die Anwohner des Primelwegs und der benachbarten Straßen, in denen nur Gartenhäuser standen, eine liebe Gewohnheit geworden, an Sonnabenden und auch an andern schönen Sommertagen zusammenzukommen und gemeinsam zu singen. Reinhold Heyden, der Frühverstorbene, damals noch Schüler, mit seiner Geige und Kuddl Kock, der Seminarist mit seiner Blockflöte, hatten den Anfang gemacht. Zuerst waren es nur Kinder gewesen, die zu ihrer Musik im Kreise spielten. Als Abschluss dieser Kreisspiele, bei denen die Erwachsenen zusahen, ergab sich das allgemeine Singen, mit dem wir in loser Ordnung durch die Straßen zogen. Es hatte das Ganze etwas von Ursprünglichkeit und Unberührtheit an sich. Es will mir heute wie ein Traum vorkommen.
Seitdem Adelbert Alexander Zinn um meinen Meister Bertram wusste, war er mir Freund geworden. Und als es galt, für die deutsche Republik die Hymne zu schaffen, bestimmte er den Schulsenator Krause, mich mit dem Abfassen dieser Hymne zu beauftragen. Mir war damals die Bewegung der Jungsozialisten nahe. So nahm ich den Auftrag mit innenem Anteil an. Es entstand nach einigen vergeblichen Anläufen jene „Deutsche Hymne“, die mir zuhause bis 1933, von Karbergs Schriftkunst in Schwarz-Rot-Gold graphisch dargestellt und eingerahmt an der Wand hing, wie sie ebenso von den Wänden aller Schulaulen und staatlichen Büroräume herabsah. Ich nahm sie 1928, als „Der ewige Tor“ herauskam, der mit den „Hamburger Hymne“ anlief, als guten Beschluss, allerdings mit den ursprünglichen Endreihen:

Deutschland, Deutschland, Volksliedklingen
in dem Völkerweltenchor,
Volk, mein Volk, o mög‘ dein Ringen
um dich selber dir gelingen!
Vaterland, empor! Empor!

Damals im Sprechzimmer des Pressechefs im rechten Flügel des Rathauses wies Zinn lächelnd auf diesen Schluss der Hymne, die ich ihm auf den Tisch gelegt hatte, und sagte, der Herr Senator wünsche die Republik als solche genannt. Ich lehnte entrüstet ab, aber Zinn wusste mich in seiner jovialen Art bald umzustimmen, und so kam es zu dem Hymnenschluss, der offiziell war und daher für Karberg galt:
Deutschland, Deutschland, Volksliedklingen
in der Vökerweltmusik,
Volk, mein Volk, o mög‘ dein Ringen
um dich selber dir gelingen!
Heil der deutschen Republik!

Ich habe ein Exemplar der Karbergschen Graphik durch die Hitlerjahre gerettet, aber es passt heute trotzdem nicht mehr.
Der Deutschen Hymne wegen und weil ich durch die Volkshochschule lange Jahre doppelt belastet gewesen war, schenkte mir der Senator Krause ein Jahr Urlaub mit Gehalt. Ich war mit meiner Frau auf dem Sozius hinter mir mit unserer Zündapp unterwegs und erhielt das Telegramm des Schulsenators in Düsseldorf, wo wir unsere Hedda-Tochter, die dort auf der Malerakademie studierte, besuchten. Ich las daran vorbei, daß erst von den Großen Ferien ab der Urlaub laufen sollte, und ließ, zuhause wieder angekommen, Schule Schule sein, blieb schön am Primelweg 8 auf meiner lütten Studierbude, sah zum Fenster hinaus oder schrieb etc. Bis endlich der Leiter meiner Schule in Langenhorn bescheiden anfragen ließ, ob ich erkrankt sei — oder warum ich nicht käme. Ich sagte dem lieben Kollegen, dass ich beurlaubt sei, zeigte ihm das Telegramm – – und erkannte mit Schrecken, dass der Urlaub erst ab 15. Juli gelte. Und wir schrieben Mitte Mai. Am andern Morgen kam ich dann recht begossen in der Norderschule an und versuchte, mich zu entschuldigen. Sie ließen es gar nicht dazu kommen, sondern lachten und meinten, das sei wieder mal der echte und ganze Hermann Claudius.
Damals hatte ich gerade einen Arbeiterroman in seinem ersten Teile beendet. „Jonni“ hatte ich ihn genannt nach einem jungen Menschen, den ich in der Töpferei der Kunstgewerbeschule am Lerchenfeld kennen gelernt hatte, einen Unruhgeist, der immer Neues angriff, um es bald unbefriedigt wieder fallen zu lassen und nach Anderem, das gerade lockte, zu greifen.
Dieser Jonny Unruh war dem Rufe einer reichen Dame, die ihn hier aufgefischt hatte, ehe sie nach Rio de Janeiro abdampfte, dorthin gefolgt. Ich ward von dem Gedanken besessen, dem Helden meines Romans nachzureisen, um für den Fortgang der Handlung den fremdländischen Hintergrund zu haben. Man erinnere sich Dauthendeys, der auf einmal nach Java musste. Der erhaltene Jahresurlaub gab mir den letzten Stoß. Im Mai 1930 wollte ich abfahren, jedoch verzögerten Anschaffung der nötigen Papiere die Sache bis in den Anfang des Juli. Der Direktor der Hamburg-Süd, Herr Amsinck, schenkte mir freie Überfahrt, begriff allerdings nicht, warum ich unbedingt nach Rio wollte, die Kanarischen Inseln seien viel näher und schöner. Aber ich reiste ja meines Romans wegen, was ich dem kaufmännischen Herrn gegenüber lieber verschwieg. Die Oberkabine, die mir versprochen worden war, erhielt ich bei der Abfahrt nicht. Die hatte mir ein hoher katholischer Geistlicher weggeschnappt. Doch war meine Kabine geräumig genug und hatte Arbeitstischchen und Schreibmaschine. Der freundliche weißhaarige Steward gab sich um mein Wohlbefinden alle erdenkliche Mühe. Trotzdem ward die Überquerung des Atlantik für mich eine Enttäuschung. Mir hatte bei der Vorstellung der Reise immer die unermessene Verlassenheit der Wasserwüste des Ozeans vorgeschwebt und der herbe Salzgeruch der See, wie ich ihn von Sylt her schon kannte. An Bord des Monte Sarmiento aber herrschte ein lärmendes und aufgeregtes Treiben wie auf einer Großstadtstraße oder wie in einem großen Restaurant oder Café. Und überall der Singsang des Radio, wohin man auch flüchten wollte: ob Eßsaal, Kaffeetafel, Terraum, Lesezimmer, Sonnendeck. Ich schlich mich nächtens ganz vorn an den Bug des Schiffes und neigte mich über die Reeling hinaus, den Atem des Ozeans einzuziehen, der im übrigen Teil des Riesenschiffes vor Tabakdunst, Moccaduft oder hundert verschiedenartigen Parfums nicht zu spüren war. Hart den Plankenleib des Dampfers begleitend, sah ich dort unten Delphine und andere Fische mit uns um die Wette schwimmen, von denen ein phosphorisches Leuchten ausging und in dem Wellenwirbel um sie her und hinter ihnen flammenartig zerfloss. Und über mir sah ich aus dem tiefen Schwarz des Nachthimmels das Sternbild des Südens, das Kreuz, funkeln, spürte aber bei meinem Betrachten, dass meine Liebe dem Orion des Nordens und dem Siebengestirn galt.
Im Achterdeck zu unterst waren deutsche Flüchtlinge aus der Ukraine, sechs oder sieben Familien, unsere Mitreisenden. Sie waren armselig anzuschauen und sehr scheu und zurückhaltsam. Männer und Frauen schliefen in getrennten Abteilen. Abends vor dem Schlafengehen kamen sie auf dem unteren Achterdeck zusammen und sangen alte Heimatlieder, vor allem Choräle. Das brachte die flirtende Gesellschaft der jungen Herrchen und Dämchen der Schiffsoberwelt dazu, ihrerseits Schlager anzustimmen, um damit die Choräle zu überschreien. Das kränkte mich. Ich stellte mich eines Abends zwischen die frommen Sänger und sang mit ihnen, was zu meinem eigenen Erstaunen seinen Eindruck auf die Schreihälse nicht verfehlte. Sie gaben das Wettsingen auf, und die Choräle klangen Abend für Abend weiter. Die Deutschrussen erzählten mir danach ihre grausamen Schicksale. Eine ältere, aber immer noch schöne Frau meinte mit dem Blick auf die einstmaligen Schreier: „Jene dort singen nur mit dem Munde, uns aber sind unsere Lieder Seelenspeise“. Dieses Wort ist mir lange nachgegangen und bewahrte seinen tiefen und schönen Klang.
In Rio angekommen, kamen mein Held Jonny und seine Señora Addy in holdseliger Rundlichkeit mir entgegen. Sie umarmten mich auf offener Bühne mehrfach und küssten mich auf die Backen nach brasilianischer Art. Um es kurz zu sagen: mein Jonny war seinem Unruhgeiste völlig entglitten und ein harmloses Schoßhündchen seiner Herrin geworden. Zwar machten wir Ausflüge auf den Corcovado, ich sah das weitausgreifende Rio zwischen Urwald und Ozean wie aus einer Riesenspielzeugschachtel hingestreut tief unter mir liegen. Große tiefblaue seidenschimmernde Schmetterlinge gaukelten über den sammetdunklen Abgrund. In der Ferne wies der Gottesfinger im Orgelgebirge steil in die Höhe. Und wieder und wieder warf das unendliche Meer seine glasiggrüne Schleppe an den weißleuchtenden Strand. Ich saß pünktlich sechs Uhr oben auf der Höhe des Zuckerhuts und wartete, bis die Sonnenscheibe ungewohnt eilig ins Meer tauchte und zur gleichen Minute die tausend und abertausend elektrischen Glühbirnen in Bögen wie lauter Laubengänge die nächtliche Stadt zeichneten.
Ich stieg auch einmal auf den Gavea und besuchte eine Farm, die von einem Indio verwaltet wurde. O über deutschen Fleiß, deutsche Ordnung und deutsche Sauberkeit! Hier war kein Zaun heil. Die Orangen verrotteten auf den Bäumen oder lagen weithin über den Boden verstreut. Ich hielt es nur eine einzige Nacht in der schmutzigen Holzbude aus. Irgendein Ungeziefer biss mich überall und war nicht wegzukratzen.
So lag ich denn meistens um sieben Uhr früh am weißen Strand zu Copocabana, an dessen schöner Uferstraße Senora Addy ihr Haus besaß, und badete, las etwas und sonnte mich, solange es auszuhalten war. Noch lag der Strand frei und majestätisch offen da. Aber der erste klobige Hotelwolkenkratzer ließ Böses erwarten. Ich besuchte auch einmal eins der Cinema und sah auf den Bänken neben und vor mir schlanke braunhäutige, schwarzhaarige Indianer einem Film folgen, der irgendwo her von waldfernen Stämmen ihre alten Kulttänze und Jagdgewohnheiten zeigte. Sie saßen da stumm und gebannt und begriffen sich wohl selber nicht. In einem der Bonds saß eine junge Indianermutter neben mir, die ihr Neugeborenes mit unendlicher Zärtlichkeit immer wieder an sich drückte, bald Muttertier, bald Madonna. Am Strande ward ich beim Fischefangen mit Negern vertraut. Sie waren die einzigen unter den Eingeborenen, die Humor hatten, laut lachten und sprangen. Dabei waren sie gewandte Schwimmer. Ich versuchte wie sie mit dem Kopf voran die ersten beiden zwei Meter hohen Wellenkämme zu durchstechen, aber es wäre mir bald schlimm bekommen. Die zweite Welle drehte mich um und um. Ich blieb also besser dabei, vornan im Sande mich überrieseln zu lassen. Allmählich machte die tagtägliche Hitze, die auch nachts kaum nachließ, mich so müde, dass ich mich zu einem Brief nach Hause immer erst zwingen musste. Dazu stand die Luft buchstäblich still. Man vergaß fast zu atmen. Der Lichtpunkt jedes Tages ward immer mehr der laute Ruf des Cariero, der an der Gartenpforte seine Briefe oder Pakete bereithielt, während die fünf Hunde der Senora Addy an der Innenseite der Gartenpforte laut kläffend hochsprangen, bis jemand sie zurückpfiff.
Meine Abfahrt nach zweimonatigem Aufenthalt war dramatisch. Mir war in den letzten Tagen am Strande zu Copocabana eine junge Österreicherin, Maria Strauß, begegnet, mit der ich ins Gespräch kam. Wenn alles umher portugiesisch redet, wovon ich kein Wort verstand, und wenn man von niemand angesprochen wird, so ist ein Anruf in der Muttersprache ein Ereignis, und dazu noch, wenn er in jener leichten singhaften Weise der Österreicher, wie sie der anmutigen Maria von den Lippen perlte, mich überraschte.
Ich muss hier eines Wortes von Thomas Mann gedenken, das in seiner Novelle „Der Tod in Venedig“ vorkommt, nämlich, daß der schöpferische Mensch in seinem Allen-geöffnet-sein dem Abgründigen zuneige. Ich verliebte mich innerhalb dreier Abende unsterblich.

Weißt du noch die Nacht, da wir uns fanden
auf dem Felsen Harpador? Die Brandung
des Atlantik schwoll zu unsern Füßen.
Brach ein Wettersturm her von Bahia
und vertrieb uns. Ach, ich seh noch heute
– o Maria di Copocabana! —
sehe heute noch dein wehes Lächeln.

Diesen heißen Bahiawind ließ ich mir Schickung sein und holte mir am andern Tag die Karte zur Rückfahrt auf der „La Corunna“. Das war ein Frachtdampfer mit wenigen Passagieren. Ein Arzt aus Porto Allegre nebst einer schönen und, wie es ersichtlich war, sehr vermögenden Dame mittlerer Jahre, der wortkarge Kapitän und der erste Maschinist bildeten die gemeinsame Mittagstafel. Der Arzt und die schöne Dame legten vom späten Nachmittag bis in die Nacht mit Versunkenheit ihre Patiencen. Ich Losgerissener war mit dem Herzen immer noch am hellen Strande von Copacabana und dichtete Marienlieder und fand bald einen jüdischen Jüngling an Bord, der sie bewundernd anhörte. Er war Zionist und auf der Fahrt nach Jerusalem und steckte voller Weltbeglückungspläne. Eines Morgens trat er in aller Frühe in meine Kabine und rief mir aufgeregt zu: „Monsieur! J’aime aussi votre Marie!“ Meine Verse hatten ihm das Mädchen so nahe gebracht, dass er leibhaftig in sie verliebt war. Mit demselben Jüngling war ich von Rotterdam aus, wo wir drei Tage im Hafen lagen, im Haag und stand mit ihm ergriffen vor dem riesigen Rembrandt im Mauritzhuis: „Saul und David“. Das Gedicht, das aus dieser Ergriffenheit entstand, hat Hans Grimm 1932 in seine Auswahl meiner Lyrik aufgenommen. Wer es aufmerksam liest, mag den Schatten des jüdischen Jünglings neben mir vielleicht erraten und vielleicht auch einen Nachklang der Marialieder darin spüren.
Als mein sechzigster Geburtstag herankam, wollte ich einen Gedichtband drucken lassen, den ich unter dem Titel „Von Huld und Schuld“ mit den Marialiedern gerade und, wie ich meinte, endgültig für mein Leben abgeschlossen hatte. (Es war so etwas in mir aufgestanden, dass da glaubte, meinen Verehrern schuldig zu sein). Er enthielt die wesentlichen Verse meiner Verliebtheiten, wie solche mehrmals während meiner Ehe und später mich überwältigt haben. Ich meinte, es der Gesamtheit derer, die mich als Dichter verehrten, schuldig zu sein, ihnen auch jene Seite meines Lebens zu offenbaren, wenn auch immer vom Schleier der Maja leise verhangen. Ich rede nicht gern vom Dämonischen und höre und lese nicht gern davon. Mit dem lieben Freund Josef Weinheber wäre ich darüber beinah in Zwiespalt geraten. Aber wenn schon das Dämonische gilt, so habe ich es am Weibe erfahren, jenes sich selber Fremdgewordensein, das man allerdings immer erst erkennt, wenn der Dämon gewichen ist. Ich habe das Buch nicht zum sechzigsten Geburtstag herausgebracht. Es liegt wohlverwahrt und soll so liegen bleiben. Beim nachträglichen Lesen in diesen Gedichten ward mir mit heimlichem Erschrecken bewusst, wieviel Schuldlosigkeit, ja fanatische Frömmigkeit hier und dort hinter ihnen steht. Ich greife zwei heraus:

An K. G.
Ich sehe dich durch alle Wände.
Ich fühle dich durch alle Luft.
Ich fasse immer deine Hände
und atme deines Leibes Duft.

Ich habe dich aus mir geboren.
Vielleicht bist du es selber nicht,
die irgendwann im Raum verloren
mit einem andern geht und spricht.

An J.S.S.

In deiner Augen Dämmerstille
bin ich zu Haus.
Wo sie nicht um mich sind,
ist alles Fremde.

Deiner Augen Dämmerdunkel – –
ich trinke daraus.
Wo sie nicht um mich sind,
dürstet die Seele.

In deiner Augen dämmerdunkeln Tiefe
wohnt mir der Gott.
Wo sie nicht um mich sind,
i s t er nicht mehr.

In diesen Jahren zwischen den beiden Weltkriegen habe ich auch zweimal im fernen Riga gelesen. Der Professor Herbert Petersen vom dortigen Herder-Institut hatte mich dazu eingeladen. Ein freundschaftlicher Briefwechsel war dem vorausgegangen. Die Bahnstrecke — auch hinter Königsberg weiter — kannte ich bereits aus den bitterkalten Oktobertagen 1917, als der Artilleriekommandeur 18 aus Mühlhausen im Elsass nach Wilna wechselte. Damals musste ich bei der mitternächtigen Ankunft in Wilna mit heran, unsere Feldhaubitzen aus den Waggons auf die Plattform zu bringen, wobei mir vor Kälte fast die Finger zerbrachen. Danach stand ich bis zum andern Morgen bei den Geschützen weit außerhalb der Stadt auf einer Bergkuppe Wache und sah die Sonne zu meinem Erschrecken im Westen aufgehen, was aber nach einiger Zeit nur die strahlenden sieben Goldkuppeln der Kirche Sankt Romanow waren, während sich nunmehr die leibhaftige Sonne im Osten schwer und groß vom dunstigen Horizonte hob.
Russisches Lied
(in: Lieder der Unruh. 1920)
Alles Schöne, das ich sehe,
küsse ich:
die aufgehende Sonne über der wirren Stadt Wilna,
die mich gefangen hält —
und die morgengoldenen Kuppeln der Kirche
Sankt Romanow.

Denn alles Schöne, das ich sehe,
hat dein Gesicht.
Deine Lippen sind aufgehende Sonne.
Und deine Stirne
die himmelschwebenden Kuppeln der Kirche
Sankt Romanow,
die ich küsse.
24.10.1917 [La 45]


Unter solchen Erinnerungen fuhr ich zweiter Klasse über den Korridor,nachdem ich mein Gegenüber, einen russischen Popen, der längelang gelegen und geschlafen hatte, sich hatte ausschimpfen lassen. Als aber der polnische Schaffner ins Abteil trat und allerlei Papiere verlangte, fing der Pope wieder an zu toben, bis dem Schaffner Angst ward und er flüchtete. So habe ich gelernt, ohne Passkontrolle den Korridor zu durchfahren, und habe es bei der zweiten Fahrt mit Erfolg nachgemacht. Die lettische Landschaft machte einen vernachlässigten Eindruck, ähnlich wie die Isle de France, wenn man nach Paris fährt, wogegen Estland schon deutscher aussah. Endlich konnte ich die Türme des Sankt Peter und des Rigaer Domes im Sonnenlicht grüßen sehen. Ich las im Schwarzhäupterhaus vor gefülltem Saal. Ich dachte als Hamburger der alten Hansefahrer und las wohl mit besonderer Andacht. Als ich geendet hatte, drückte mir mancher mit Wärme die Hand. In einem Herrenzimmer eines alten Stadtbürgerhauses saß ich am andern Tage unter Gelehrten und Studenten des Instituts, auch waren alte und junge Poeten dabei. Ich las und andere lasen. Und jedes Mal, wenn ein anderer gelesen hatte, wartete man auf mein Urteil. Es ist nicht immer leicht gewesen für mich, die Würde und Vornehmheit der geselligen Stunde zu wahren. Professor Petersen und mein Hotelier, der mich auskömmlich bewirtete, fuhren mit mir an die offene See und vor die Prunksäle des Riesenkasinos, das die Letten dort hart am Strande errichtet hatten, um Badesaison vorzutäuschen. Wir waren fast die einzigen Gäste in den protzigen Räumen und fuhren bald wieder zurück. Es muss dieser geistigen Elite um Professor Petersen furchtbar gewesen sein, als sie vom Reich als Volksgenossen zurückgerufen wurden und in öden Lagern lange in fremde Armut und Unzulänglichkeit eingeklemmt, nicht wussten, was sie beginnen sollten. Mancher briefliche Hilferuf hat mir damals ans Herz gegriffen und mich von der Aristokratie des Geistigen nur fester überzeugt.

VI.
Über das alles brach das Jahr 1933 mit autoritären Gewaltmaßnahmen herein. Wir mussten Morgen für Morgen sämtliche Schüler unserer Schule in der Alsterdorferstraße antreten und sie mit ausgestrecktem rechten Arm das Deutschlandlied (es waren zuerst alle drei Strophen) und das gassenhauerische Horst-Wessel-Lied singen lassen. Über das letztere ulkte ich einmal im Lehrerzimmer und muss wohl noch einige andere absprechende Worte über das Regime gesagt haben; denn der Kollege W. reckte sich plötzlich vom Tische auf und ging hinaus. Als ich im Fortgehen zur Klasse an ihm vorbeikam, flüsterte er mir ins Ohr, dass ich heute Nacht wohl nicht in meinem Bette ausschlafen würde. Er müsse als SA-Mann mich wegen meiner volksverräterischen Äußerungen anzeigen.
Es war gerade ein Tag vor meinem 55. Geburtstage. Auf meinem guten Zündapp kam ich heimfahrend sehr ins Nachdenken und machte mir bittere Vorwürfe, mich und meine Familie in unnötige Sorgen gebracht zu haben. Ich war voll Gift und Galle und spürte nicht, dass ich überschnell fuhr. Scharf links einbiegend raste ich mit jäher Gewalt in den rechten Kotflügel eines Lastkraftwagens hinein, der mir in ähnlicher Geschwindigkeit entgegen kam. Mit schwerer Gehirnerschütterung ward ich durch einen Arzt ins Haus gefahren. Ich habe unter fürchterlichem Sausen im Kopfe monatelang still im Bett gelegen, und nur durch des Arztes Energie gelang es, mir Nahrung einzulöffeln. Ich selbst hatte alle Lust am Leben verloren. Erst im März des nächsten Jahres machte ich die ersten Gehversuche. Da ich das Gefühl für Gleichgewicht verloren hatte, musste ich wie ein Kind von vorne anfangen. Aus dieser Zeit stammt jenes Gedicht, das in der Melodie von Gottfried Wolters ein Kinderlied geworden ist:
Du liebe, liebe Sonne
bescheine mich,
lass Gutes in mir wachsen,
das bitt ich dich. . . . [D 16]

Da ich halbseitig taub blieb und zuerst auch unter Sprachstörungen litt, ward ich von meiner Behörde mit dem üblichen Ruhegehalt meines Amtes enthoben. Franziska hatte Sorgen, weil die Kinder noch in der Ausbildung standen. Ich empfand trotz meiner körperlichen Behinderung ein Gefühl endlicher Erleichterung und fing an, jene Geschichten aus meiner Kindheit niederzuschreiben, die als „Armantje“ weite Verbreitung fanden. Diese Verbreitung wurde aber nur dadurch möglich, dass mich die Freundeshand Hans Grimms mit schlichter und sicherer Geste inzwischen in den großen Verlag von Albert Langen/Georg Müller hineingehoben hatte. „Meine geliebten Claudius-Gedichte“ nannte er den Auswahlband meiner Lyrik, welche er mit einer Einleitung versah, die schon an sich eine poetische Köstlichkeit bleiben wird. Die Sammlung erschien im November 1932. Das bedeutet d i e Zäsur in meiner Existenz als Dichter.
Ich ward in der Folge auch vom Zeitungszwang frei und sah jene Verse zur Geltung kommen, die ich fast vor mir selber verborgen hatte. Meiner Frau war zugleich eine große Sorge vom Herzen genommen. Es entstand ein reger Briefwechsel mit Menschen, die mich jetzt erst ihre Anerkennung fühlen ließen. Der dichterische Quell in mir sprudelte lebendiger, wenn auch ein Sausen und Summen im Kopfe von der Gehirnerschütterung nachgeblieben war und mich bei Erregungen quälte. Es ist ohne weiteres klar, dass ich auf solche Weise dem bewegten politischen Leben jener Monate völlig abseitig ging. In dieser Zeit las ich für mich kritisch und in aller Stille sowohl meine hochdeutsche verkappte Selbstbiographie „Das Silberschiff“ wie auch die plattdeutsche „Stummel“. Ich legte beide unbefriedigt zurück und schrieb den Vers, der für jene Tage gewichtiger klang, als er heute klingen mag:

Dass dein Herz fest sei —
das ist das Eine.
Dass dein Mund spreche,
wie er es meine.
Und dass du mit deinem
Herrgott ins Reine
gekommen.
Sonst kann dir nichts frommen.
Und ob es auch scheine. [D 5]

Im Spätherbst 1938 erhielt ich vom Büro Rosenberg den dringend ausgesprochenen Wunsch, mich zum 50. Geburtstag Adolf Hitlers in irgendeiner Form zu ihm zu bekennen. Ich lehnte ab mit der Begründung, die Gestalt des Führers sei mir zu nah, um sie dichterisch erfassen zu können. Anders aber hätte es weder für mich noch für andere einen Sinn. Daraufhin bekam ich nach geraumer Zeit eine zweite Aufforderung, dass man mein Bekenntnis erwarte. Ich ließ wieder Wochen verstreichen, ohne zu antworten, hörte dann aber von harten Maßregelungen seitens der Gestapo wegen geringster politischer Widersprüche und begann zu überlegen, ob ich bei meiner versteckten Weigerung bleiben könne. In einer Nacht kam mir dann jenes Gedicht, das mich von 1945 ab bis heute verfolgt, weil es mich nach Ansicht der Schnellleser und Schnellhörer als Nazi ausweise. Seinem Entstehen nach war dies Gedicht eine ehrliche Gestaltung dessen, was ich von ganzer Seele für mein Volk empfand und womit ich zum Guten lenken wollte. Ein Engländer hat es während einer der Verhöre, die ich deswegen erleben musste, „only a prayer“ genannt:
Herrgott, steh dem Führer bei,
dass sein Werk das D e i n e sei! . . . . . [Z 130]
Als ich meiner Frau das Gedicht am Morgen vorlas, bat sie mich, es nicht abzusenden, da es kein Bekenntnis bedeute, sondern eher eine Zurechtweisung. Ich konnte ihr nicht Unrecht geben, ließ das Gedicht ein paar Tage liegen und sandte es dann doch ab (zumal ich annahm, dass es nicht gedruckt würde). Ich hatte es der Forderung entsprechend handgeschrieben auf ein mir zu diesem Zwecke zugesandtes Büttenpapier. Vor der Spruchkammer am 24. November 1948 (die mich, ohne dass ich jemals Pg gewesen bin, trotzdem entnazifizierte) wurde dieses Gedicht als „Mist“ bezeichnet. Hans Grimm nennt es in seiner 1950 erschienenen Erzbischofsschrift: „das nach vieler gläubiger, unruhiger Menschen Meinung tief fromme und mahnende Bittgedicht“.
In einem andern Bittgedicht jener Zeit hatte ich meine Besorgnis noch stärker zum Ausdruck gebracht und es geradezu „Gebet“ überschrieben:
Komm zu uns, Gott, zu dieser Frist,
weil alles andre eitel ist . . . [Z 138]
Dies Gedicht las ich als Abschluss einer Lesung im Sommer 1941 von der Kanzel einer Kirche zu Heidelberg. Am Ausgang der Wendeltreppe griff mich ein SA-Mann fast mit Händen an und sagte: „Und Sie wagen öffentlich zu sagen, dass wir in List und Lug ersticken?“ Ich sah den braunen Mann an und ahnte, was vielleicht kommen würde; denn zwei andere Braune drängten sich schon erregt zu ihm. Da hatte ich einen Einfall, der mich schlagartig aus der Situation zog. Ich sah dem Manne ruhig ins Gesicht und fragte ihn: „Mein Herr, kennen Sie nicht einen gewissen Mr. Winston Churchill?“ Der Angreifer sah mich einen Augenblick lang dumm an, dann stotterte er verlegen: „Ach, so meinten Sie es?“ worauf ich scharf hinzusetzte: „Ja, mein Bester, was meinten S i e denn?“ Da entschwand er samt seinen Kumpanen und ward nicht mehr gesehen. Einer der jungen Studenten, die mich umringten, sagte voller Ergriffenheit: „Claudius, das hat Ihnen der liebe Gott eingegeben!“ Denn dass ich mit „List und Lug“ doch unsere national-sozialistische Führung jener Tage gemeint hatte, war allen klar, die mich kannten.

1941. Februar.
In meinem Eckschrank steht ein rubinrotes Trinkglas, das man mir, nachdem ich in Reichenberg vor einer Versammlung Sudetendeutscher gelesen hatte, beim Festmahl überreichte. Ich äußerte den Wunsch, Prag zu sehen. Und obwohl mir der Marschbefehl, die Grenze des Protektorats zu überschreiten, fehlte, nahm man mich, mir meinen Wunsch zu erfüllen, in einem guten Wagen mit und sauste mit 120 Stundenkilometern durch die erstaunte Postenkette heil hindurch ins Böhmerland hinein. Prag überraschte mich, obwohl ich es im Geiste beim Schreiben meines „Meister Bertram“ schon erlebt zu haben meinte, völlig: eine historische Atmosphäre hob alles aus dem Alltag empor, wohin man auch blickte oder ging, uraltes Erbe aus großen Tagen seiner Universität, der ältesten Deutschlands.
Auf der herrlich-geschwungenen Brücke über die Moldau nach dem Hradschin hinüber, zeigte man mir die Gestalt des Heiligen Wentzel und erzählte, dass ein Student aus der Krone des Heiligen einen Rubin gebrochen habe als Talisman, damit er sein Examen bestehe. Und er habe es bestanden. Worauf der Student in heller Freude, nachdem er den Rubin noch einmal heimlich geküsst, ihn der Ortsbehörde wieder zurückgab unter offener Beichtigung seiner verwegenen Tat. Und man hatte den Humor, ihm zu verzeihen.
in Prag las ich vor einem kleinen Gremium, mit dem ich danach in einer winkligen Gasse ein absonderliches Wirtslokal aufsuchte: geheimnisvoll miteinander verbundene Gewölbe mit altersträchtigen Pfeilern und Säulen und breiten eichenen Tischen und Bänken. Bei meinem Eintritt begann ein silberhelles Glockenspiel zu läuten. Als es geendet, erhob sich alles von den Plätzen und trank aus alt-geschliffenen hohen Gläsern auf mein Wohl.
Es war nach Mitternacht und die Gewölbe schwer vom Tabakrauch und Weindunst, als man mir vorlegte, ob ich bereit sei, zu einer Bruckner-Messe einen deutschen Text zu schreiben. Mir schwante, was dieser Text allein nur hätte sein dürfen, und lehnte ab mit der Begründung, daß man die Worte des Gesangs doch nicht verstehen könne und es also beim lateinischen Text belassen solle. Dazu: Bruckner sei ein katholischer Christ.
Man sah mich an. Man schwieg. Man ließ mich allein. Plötzlich saß ich wie ein Fremder von allen gemieden, erhob mich bald und schritt durch die Rauchschwaden hinaus. Da man mich vom Hotel abgeholt hatte, wusste ich nicht Namen noch Straße, lief in dem engen Gassenviertel umher; denn dass die Gasse sehr eng gewesen war beim Hinaustreten, das hatte ich behalten und: dass ein blaues Licht einer hängenden Laterne über dem Eingang geisterte. Und diese Laterne war mein Retter. Ich fand sie. Das Hotel stimmte. Ich haute mich ins Bett. Am andern Morgen war es bitterkalt. Keiner kam, mich an die Bahn zu bringen. Mit meinem Koffer schleppte ich mich hin, wartete zwei Stunden, bis der Zug, reifbedeckt, einlief, und fuhr nach Reichenberg zurück, ohne ein anderes zu tun, als dort nur in den Zug nach Berlin-Hamburg umzusteigen.
Ich fasse den rubinroten Pokal jedesmal mit sehr divergierenden Gefühlen an. Bald steht er das zweite Jahrzehnt an seinem Ort. Was ist seither nicht alles vergangen, das dauernder sein sollte als Glas!!

Während ich so von meinem Leben berichte, fällt es mir schwer auf die Seele, dass ich bisher eines Mannes mit keinem Worte Erwähnung getan habe, obgleich er eine wesentliche Rolle in meiner Entwicklung als Poet gespielt hat. Es ist der Dichter Hans Franck auf Frankenhorst bei Schwerin. Von 1902 bis 1904 waren wir Kollegen an der Volksschule Hopfenstraße 30 in Sankt Pauli. Hans Franck war der erste Mensch, der ein Gedicht von mir als solches anerkannte und es mir gegenüber offen aussprach. Es handelte sich um ein plattdeutsches Gedicht. Für mich bedeutete das Urteil um so mehr, weil Hans Franck zugleich Kritiker an dem berühmten „Literarischen Echo“ war. Er ging bald aus dem Schuldienst und als Dramaturg nach Düsseldorf an das Theater der Frau Louise Dumont. Dadurch wurde er mir auf Jahre entrückt, doch blieben wir in einem fruchtbaren Briefwechsel. Wie ehrlich und zugleich drastisch seine Kritik meinem Schaffen gegenüber war, mag man daran erkennen, dass er als Antwort auf mein ihm zugesandtes fünfaktiges Drama: „Der Fliegerpastor“ nur das eine Wort quer über die Seite schrieb: S c h i e t! Dein Freund Hans Franck.
Und für meinen Versuch, einige Gedichte des Wandsbecker Boten ins Plattdeutsche zu übertragen, die dann in einer Hamburger Zeitschrift erschienen, dekretierte er mir das „Meckelbörger Fröhstück“: Jeden Morgen auf nüchternen Magen fünfundzwanzig auf den Hintern. Als „Dank des Siebzigers“ hat er mein Grußgedicht und eins seiner Gedichte nebeneinander gesetzt. So waren wir beieinander, obwohl er seit 1945 in der russischen Zone sitzt. Vor ein paar Tagen war er bei mir im Eschenhus. Seit sieben Jahren hatten wir uns nicht mehr gesehen. Die Zerstückelung Deutschlands lastete sichtbar auf ihm.

Unserer Arbeitsweise nach sind wir durchaus entgegengesetzte Naturen: er der Sesshafte, ich der Immer-Bewegte. Aber in der Tiefe bindet uns unser bäurisches Wesen und die plattdeutsche Sprache, wenn Hans Franck sie auch als Dichter selten oder kaum gebraucht.
Es wäre hier am Ende ein Wort über die Freundschaft im Allgemeinen zu sagen. Im vierten Teil seiner „Sämtlichen Werke“ spricht mein Urahn 1783 darüber: „Wenn du Paul den Peter rühmen hörst, so wirst du finden, rühmt Peter den Paul wieder, und das heißen sie dann Freunde. Und ist oft zwischen ihnen weiter nichts, als dass einer den andern kratzt, damit er ihn wieder kratze und sich so wechselweise zum Narren haben. Denn wie du siehst, ist hier wie in vielen anderen Fällen ein jeder von ihnen nur sein eigener Freund und nicht des andern. Ich pflege solche Dinge „Holunderfreundschaften“ zu nennen. Wenn du einen jungen Holunderzweig ansiehst, so sieht er fein stämmig und wohlgegründet aus. Schneidest du ihn aber an, so ist er inwendig hohl und ist so ein trocken und schwammig Wesen darin.“ – –
Den Holunderstrauch in Ehren — ich liebe seine weißen Blütendolden und esse Fliederbeersuppe für mein Leben gern! — aber des Matthias Claudius Wort von den „Holunderfreundschaften“ soll gelten. Ich habe deren manche erfahren.
Der wahren Freunde sind wenige gewesen. Es reichen fast die Finger einer Hand, sie aufzuzählen: Hans Franck, Hans Grimm, Alexander Zinn, Wilhelm Stapel, Heinz Ohlendorf, Armin Knab – – –
Dass man Du sagt, ist nicht das Entscheidene. Zu Grimm und Stapel sagte ich es nie. Die Grenze verschiebt sich ungewollt, und Namen drängen sich in die Feder derer, die man gern hat oder hatte: Hans Carossa, Will Vesper, August Winnig – – – Und nun sie, die mir nicht ihre Hand mehr reichen können: Börries von Münchhausen, Rudolf G. Binding, Ottomar Enking, Josef Weinheber, Gustav Frenssen, Fritz Höger, zu denen sich nun auch Armin Knab und Arthur Illies und Wilhelm Stapel gesellt haben. Jener Freund und Maler Prof. Arthur Illies in Lüneburg, dessen Porträt mich als Mondscheinmann darstellt und mich tagtäglich von unserer Stubenwand groß ansieht – – und Bernt von Heiseler – – darf ich ihn Freund nennen? Ich wurde seiner in einer einzigen Stunde, nachdem ich seinen „Bogen des Philoktet“ erlebt hatte. Und da taucht auch schon das helläugige Gesicht des Dr. Netolitzky, des Leiters des „Morgenstern“ auf, der mein Spiel von Kain und Abel meisterhaft inszenierte. Und „Go“ meldet sich, der Griechenlandselige und vom Athosberg-Entflohene, den ich auf Föhr vor 25 Jahren zuerst sah – – Und nun saß er mir auf einmal wieder gegenüber und erzählte und erzählte sich in immer lichtere Begeisterung dessen, was er Menschentum heißt und leben möchte. Ich schrieb ihm das folgende Gedicht:

“ G o – “ (Prof. Georg Alexander Mathey)

Monatelang weiltest du bei den Mönchen
am einsamen Berge Athos im schönen Griechenland,
beugtest dich ihrem strengen Orden
und kehrtest zurück,
selber ein Mönch geworden.
Und deine Hand
berührte alle Dinge dieser Erde nur leise,
als seien sie Schein,
und ihre innerste Weise
müsse verborgen dahinten sein.
Doch liebtest du darum die Dinge der Erde nur um so mehr,
nach ihrem geheimen Wesen trägst du Begehr,
wie du ihm einst am Berge Athos nahe gewesen.
Ich mag es in deinen Blicken lesen
und mag es hören aus deiner Stimme seligem Überschwang,
wann immer deine Ergriffenheit von Griechenland sagte und sang.
Dort, wo die alten Götter immer noch leben
und sich dem Christengotte mystisch verweben,
wo ihre hohen Säulen einsam ragen
und das Lächeln der Götter tragen
im Kranze ihrer köstlichen Kapitäle.
Es ist, als schäle
sich von allen Dingen die hüllende Kruste ab,
die Seele selber stiege aus ihrem verjährten Grab
jubelnd empor.
– – – – – – – – – – – – – –
So bist du wie einer, der sich selig verlor,
sich traumhaft geworden,
seit du vom Berge Athos schiedest
aus dem heiligen Orden.
[LG 69]

Der schöpferische Mensch ist im Grunde ein Einsamer. So war es ein Wagnis, beinahe ein Widerspruch in sich selbst, als Hans Grimm zu Anfang der dreißiger Jahre schöpferische Geister in sein Klosterhaus zusammenrief. Daraus entwickelten sich bald die Lippoldsberger Dichtertage, an denen ich von 1935 bis zum Schluss 1939 auf Hans Grimms Anruf hin teilgenommen habe.
Das Klosterhaus mit seinem fürstlichen Herrenzimmer, aus dessen hohen Fenstern der Blick über das anmutige Wesertal gleiten mochte, der großmächtige Speisesaal unter dem uralten, von seiner Schwere gebogenen Eichenbalken und der weite Klostergarten mit seiner Ulmenallee, seinem Weinhäuschen, dem Springbrunnen und seinen beiden ragenden Thujas, die der harte Winter 1946 leider vernichtete, war der würdige Sammelpunkt für Poeten und deren Gesellen, darunter auch Engländer und Amerikaner waren.
Dazu bot der geräumige Klosterhof zwischen Haus und der alten Kirche in seiner sicheren Geborgenheit die Möglichkeit, für manchmal dreitausend Hörer Stätte ungestörter Andacht zu sein. Dennoch war und blieb das absolute Zentrum alles dessen die Gestalt und das Wesen des Hausherrn Hans Grimm, der jedes Mal zu Anfang der großen Lesungen in seiner unnachahmlichen Art das Wort an die im Klosterhof Versammelten richtete. Er verstand es auch, sich als Gastgeber so sehr zurückzuhalten, dass jeder der Gäste nach seiner eigenen Art sich einrichten konnte und sich alsbald zuhause fühlte. Es waren gar oft köstliche Stunden, wenn Binding das Glas hob und seine Tischrede der Anmut hielt, von der er in dem Augenblick, wenn er leise an sein Glas tippte, selber durchaus noch nicht wusste, w a s er reden werde. Aber das war wohl gerade der besondere Genuss für uns Lauschende, wie er gleichsam auf schwankem Seile balanzierte und mit der Fülle seiner Einfälle sozusagen Ball spielte. Und da war Börries Freiherr von Münchhausen mit seinen hundert Anekdoten über Fürsten und königliche Hoheiten, bei denen er seiner Plauderkunst wegen — wie er schelmisch sagte, zum Frühstück geladen und mit Orden belohnt worden sei. Oder wenn Rudolf Alexander Schröder an einem der letzten Abende des Kreises — es war schon lange nach Mitternacht — auf den Namen eines jeden von uns ein Wortspiel erfand, das dennoch mehr war als nur Wortspiel; z.B. auf Bruno Brehm, dem von Österreichischer Anmut Verbrämten, Paul Fechter, den „Menschen“, denn das heißt „ein Fechter sein“, Hans Carossa, dem nur ungern aus seiner Carosse der Besinnlichkeit Niedersteigenden, Rudolf G. Binding, das heißt „bin Ding“, das ist: das Ding an sich. Und mich selber erinnerte er, indem er mich eben zuvor einen rührenden Knaben genannt hatte, lächelnd an den Nachfolger Caligulas: „Ich, Claudius Kaiser und Gott“, wobei er mir gönnerhaft über das Haar strich.
Der Gedanke innerer Zusammengehörigkeit beherrschte auch die Menge der immer mächtiger zuströmenden Hörer. Es ist in den fünf Sommern, die ich miterlebte, niemals ein hässlicher Zwischenfall passiert, während sonst so große Versammlungen der damaligen Zeit oft dadurch gestört wurden, handelte es sich doch immerhin 1937 und 38 um über dreitausend Besucher, die weither gekommen waren und den Klosterhof gedrängt füllten, von denen Jugendliche bis oben auf das Dach der ehrwürdigen Klosterkirche kletterten, um hören und sehen zu können.
Diese beiden Jahre fuhr ich in meinem DKW hin. Der Wagen war überlebt und sah etwas seltsam aus. Ich hatte ihn für achthundert Mark erstanden und war sehr stolz darauf. Grimm nannte ihn schmunzelnd „die Kaffeemühle“. Er wusste selber nicht, warum.
1938 schlief ich im Fahren zwischen Schleswig und Neumünster nach durchtanzter Nacht am Steuer ein und steuerte den guten Wagen, den ich gerade hatte überholen lasse, an einen Chausseebaum, der stur am Weg stehen geblieben war. Meine arme Franziska musste ich ins Krankenhaus nach Neumünster bringen. Es war zum Troste nicht gar zu arg geworden. Mir war nicht das Geringste passiert, aber in dem augenblicklichen Ärger über das Missgeschick verschleuderte ich den Wagen für sechzig Mark bar, die noch nicht den Wert der neuen Reifen ausmachten, während der Käufer nach wenigen fachmännischen Griffen vergnügt davonfuhr. Zwar wehte die Karosserie wie eine Trauerfahne hinterher… Und es war dennoch weise getan.
Während derselben Zeit, in der ich an den Lippoldsberger Dichtertagen teilnahm, gehörte ich auch wie heute noch dem Eutiner Dichterkreis an und war oft auch zugegen, wenn der Doberaner Dichterkreis zusammengerufen worden war. Beide waren nicht privater Natur wie die Lippoldsberger Treffen, an denen keine Hakenkreuzfahne wehte, sondern sie waren dem staatlichen Gefüge, wenn auch nur lose, eingeordnet. Hans Friedrich Blunck war der Beweger des Eutiner Dichterkreises, so wenig er es auch äußerlich dokumentierte, ein Mann der humanistischen Schule und als Jurist mit manchen Vorbedingungen der Führung einer Gesellschaft unpraktischer Poeten bedacht. Ich war ihm vor vielen Jahren in Hamburg im „Berliner Hof“ begegnet und kannte ihn damals schon flüchtig von der „Himmelsleiter“ her. Eugen Diederichs hatte uns eingeladen.
Ich war zuerst da und erfuhr, dass ich für seinen Verlag einen Hamburger Roman schreiben sollte, entweder „Blücher in Hamburg“ oder „Störtebecker“. Ich war verdutzt und wollte ausweichen, aber Diederichs legte mich dann auf Störtebecker fest. Es war Kaffeezeit, und Eugen Diederichs und seine Frau Lulu schienen gerade getrunken zu haben. Diederichs bot mir mit etwas hilfloser Geste einen Rest Kaffee und Kuchen an, als in demselben Augenblick Hans Friedrich Blunck eintrat. Es kam zu einer sehr herzlichen Begrüßung von Doktor zu Doktor, wobei, meine ich, die niederdeutschen Märchen Bluncks erwähnt wurden. Mit einem Blick auf den Kaffeerest fragte mich Blunck, ob ich schon getrunken habe. Was ich verneinte. Worauf der große Eugen sich besann und schleunig den Ober anrief, die beiden Herren entsprechend zu versorgen. Zugleich bot er uns eine Importe an, die ich für mich zwar ablehnte. Blunck und ich lächelten uns an.
Bei den Gewandstudien zum Störtebecker Roman kam ich dazu, in der Kunsthalle den Altar des zeitgenössischen Meister Bertram zu betrachten. Ich war schon dabei gewesen, als im Jahre 1905 Alfred Lichtwarck die Teile dieses Altars auf wunderbare Weise aufgefunden und in der Hamburger Kunsthalle vereinigt hatte. Die herzliche Naivität dieses alten Meisters nahm mich so gefangen und war meiner eigenen Art so verwandt, dass ich den rauhen Seeräuber fahren ließ und ein Tagebuch des Meisters zu schreiben anfing, das ohne historische Unterlagen allein aus seinem Altarwerk mir zuwuchs. Zu meiner eigenen Überraschung entdeckte ich viel später, dass manches sich mit den Notizen meines Tagebuches aus den Jahren 1921 bis 23 deckte. Diederichs lehnte das Manuskript ab.
Der Schirmherr des Eutiner Kreises war offiziell der Regierungspräsident Böhmcker, den ich wegen seiner robusten Erscheinung und seines herrischen Auftretens bei einer Tischrede mit „Bulle“ titulierte, was er mir zum Erstaunen der Tafelrunde nicht krumm nahm, sondern mich seitdem extra in sein sehr bewegtes Herz schloss. In den ersten Jahren waren wir noch Gäste des Erbgroßherzogs, der uns in echter Mäzenatenart sein Schloss samt dem Park mit der schönen Lindenallee und seinen Marstall mit den edlen Pferden zur Verfügung stellte. Wir saßen bei Kaffee und Kuchen im Ahnensaal des Schlosses in heiteren Gesprächen bei einander. Von öffentlichen Abenden war gar keine Rede, wir sollten uns selber wohl befinden und neue Kraft zur Arbeit gewinnen. Ich weiß noch den Nachmittag, als dem lieben alten Ottomar Enking, der zu unserem Kreis gehörte, in demselben weihevollen Saale eine besondere Ehrung zuteil ward und er sich in seiner bescheidenen Weise in schüchterner Rede dafür bedankte.
Mich hatte die Erbgroßherzogin besonders gern, der man noch ansah, dass sie einmal leibhaftige Regentin gewesen war, was ich ihr gegenüber aussprach, und der ich immer wieder über den Wandsbecker Boten erzählen musste. Als Hamburg durch Hitlers Befehl Groß-Hamburg wurde, ward Eutin der Provinz Holstein eingegliedert, das Schloß vereinsamte, und wir Poeten mussten durch Vortragsabende einen Teil der Tagungskosten aufzubringen versuchen. Der ruppige, aber dem Kern unserer Sache zugetane Böhmcker wurde als Bürgermeister nach Bremen versetzt. Und die Eutiner Tage sanken in den Rahmen des Üblichen. Im Persönlichen gab es trotzdem schöne Stunden, wenn Gunnar Gunnarsson und Fritz Höger zusammensaßen oder Gustav Frenssen und Ottomar Enking oder August Hinrichs und ich. Und die guten Laren des Vosshauses, wo wir uns von nun ab versammelten, waren mancher gehobenen Abendstimmung hold, die mir in der Erinnerung wie das Klingen eines Händelmotivs nachtönt.
Viele der damaligen Dichter und Künstler sind nicht mehr: Ottomar Enking, Gustav Frenssen, Fritz Höger, Heinrich Eckmann, Otto Garber, Wilhelm Lobsien. Aber Christian Janssen in Fissau am Kellersee gibt sich seit Jahren die erdenklichste Mühe, den Eutiner Kreis zusammenzuhalten und durch neu herangezogene junge Kräfte zu stärken, wie er seit 1937 auch den Eutiner Almanach herausgibt. Einen besonderen Vorzug hat der „Eutiner Kreis“ dadurch, dass er anders als der Lippoldsberger auch schöpferische Frauen zu sich gezogen hat: Helene Voigt-Diederichs, Ingeborg Andresen und Alma Rogge.
Der „Doberaner Dichterkreis“ war der robustere. Dort lernte ich auf einer Dampferfahrt nach Danzig-Zoppot auch Friedrich Griese kennen, Hans Heitmann und Karl Bunje. Besonders ist mir Gerhard Ringeling in der Erinnerung lebendig geblieben, der mir sein liebeseliges verzagtes Herz ausschüttete und mit dem ich lange im Doberaner Münster weilte, wo er mir mit inbrünstiger Ergriffenheit alle versteckten Feinheiten des Baus näher zu bringen versuchte, so z.B. die nicht völlig schnurgerechte Ausrichtung der gotisch empostrebenden Säulen. Wir fanden danach, dass auch in Gedichten gerade ein Umgehen des straffen Rhythmusses oft das Anziehende und Rätselsame bedeute. Die Zeit ward immer gewaltsamer. Auch Ringeling ist nicht mehr.
Als ich im Herbst 1932 am Tempelhoferfeld mit meiner quasi Nichte Maria-Luise Claudius vor dem Mikrophon ein Gespräch über unseren gemeinsamen Ahnen, den „Wandsbecker Boten“ geführt hatte, besuchte ich Julius Bab, den damals anerkannten ersten Literaturkritiker Groß-Berlins, in seinem Heim in der Akazienallee am Zoo. Er begrüßte mich mit seiner komisch hochklingenden Stimme auf das Freundschaftlichste und machte mich mit Goliath, seinem Riesen-Bernhardinerhund, bekannt. Ich blieb ein paar Tage. Wir machten einen Matthias-Claudius-Abend. Ich höre immer noch — von Babs dünnhoher Stimme fast wie gesungen — das „Wiegenlied beim Mondschein zu singen“, dessen überwältigende Anmut und Schwebeseligkeit mir damals erst wahrhaft zur Erkenntnis kam.
Dem Kalender nach waren Bab und ich einander bereits seit zwanzig Jahren bekannt, seit jenem plattdeutschen Gedicht, mit dem ich mich von Hans Franck, ehe er nach Düsseldorf ging, verabschiedet hatte: „Bör, bör den Boom ut de Eer!“Obgleich Bab als Jude dem Plattdeutschen fern stand, erfühlte er hinter diesen Rhythmen ein Dichterisches und sagte es mir sofort in einem Briefe auf den Kopf zu. Ich hatte schon „Mank Muern“ herausgebracht und werde gelächelt haben, aber der Zuspruch des „Großen Berliners“ gab mir doch größere Gewissheit. Ich habe danach Bab in sehr niedergedrückter Stimmung verlassen müssen, als die Judenhetze unter Goebbels immer schärfere Formen annahm.
Seit Kindertagen war brachiale Gewalt mir ein Furchtbares, Unwürdiges, Höllisches gewesen, nur hatte ich damals noch nicht den beschönigenden und fast wohlklingenden Namen dafür gewusst. Auch blieb ich insofern der naive Knabe, dass ich während der letzten Jahre des Krieges die von fremden Sendern trotz Verbotes heimlich erlauschten Unmenschlichkeiten nicht glauben wollte, weil sie meinem deutschen Wesen fremd waren.
Im Mai 1939 machte ich mit meiner Frau eine Reise nach Italien. In mir war die Sehnsucht nach der Ruhe der Antike und der klassischen Schönheit der römischen Campagna immer größer geworden, je unruhiger sich die Zeit anließ. Wir sahen auch die hohe Kuppel des Sankt Peter, die Fresken des Michel Angelo in der Sixtinischen Kapelle und seinen gewaltigen Moses im Sankt Pietro in Vinculi, wir sonnten uns eine selige Woche zu Mazzaro am Mittelmeer bei Taormina und hörten die Fischer beim Netzeflicken aus Rossinis Opern Arien singen: und wurden doch die Unruhe nicht los, die wir von Deutschland mitgebracht hatten. Dazu kam, dass auch in Neapel und Venedig das Volk politisch erregt schien, soweit wir aus der Gestikulation und dem Geschrei der Menge klug werden konnten. In Rom empfing mich der Professor Gabetti, den ich im Jahre vorher in Lippoldsberg kennengelernt hatte. Ich las in dem Seminario Tedesca in der Villa Sciarra, einem schlösschenartigen Gebäude, vor jungen italienischen Studenten. Vom Rande der rötlich schimmernden Terrasse draußen schrie ein Pfau und reckte seinen schillernden Hals und schlug ein Rad. Gabetti wollte uns danach ein Stück echtes Italien zeigen, wie es seit Jahrhunderten sich nicht verändert hatte, und führte uns in die Osteria la Cisterna. Daran mag der folgende Vers erinnern:
Wir saßen und aßen
und hoben die Gläser und tranken . . . [Z 122]
In Venedig kriegten wir Heimweh nach Hamburg und erst auf den Berghöhen Südtirols ward mir heimisch, als ich zu unsern Füßen die alten lieben Unkräuter wieder wuchern sah und deutsche Laute hörte. Als Extrakt meiner Italienfahrt möge der kleine Vers stehen, den ich in Sizilien schrieb:

Immer wieder
müssen bei uns die Bäume
aus ihrem Wintergrabe erstehn.
Das macht sie so frühlingstrunkenschön.
Sie wissen um das Sterben Bescheid
und tragen ihr sommerlich-leuchtendes Laub
wie ein Feierkleid. [Z 125]


[Es folgt ein Zeitungsausschnitt vom 22./23.Mai 1939:]
Brief aus Italien.
Von Hermann Claudius
In jedem Land ist das Volk darin die Hauptsache . . . . .

Zuhause angekommen erkrankte meine Frau. Schon während der Reise hatte sich Müdigkeit gezeigt, so sehr sie auch dagegen angegangen war. Der Arzt stellte ein Leiden fest, das schon lange heimlich in ihr gewirkt hatte: Krebs. Zwar verlief die Operation glücklich, dennoch sollte sie ihren sechzigsten Geburtstag nicht mehr erleben. Der Ankauf des eigenen Heims in Hummelsbüttel, dazu ihre konsequente Art zu sparen Wesentliches beigetragen hatte, machte noch einmal alle ihre Fürsorge mobil. Im März 1941, nachdem ich wochenlang Tag für Tag an ihrem Bett gesessen hatte, starb sie im Hafenkrankenhaus. So deckte den Jubel des endlich erworbenen Eigenheims schnell ein schwarzer Flor. Ich schrieb in jenen Wochen die „Eschenhuser Elegie“, die fast gegen meinen Willen als Buch erschien. Aber es haben mir gerade für dieses schmale Büchlein viele besonders innig gedankt.
Wenn ich hinüberhorche – –
dein Bett ist leer.
Ich höre deine ruhigen tiefen
Atemzüge nicht mehr . . . . [EE 19]

Der Buxtehuder Arzt Dr. Bock las es und sagte mir in ruhiger Gewißheit: „So etwas gelingt nur alle hundert Jahre einmal!“ Für mich bleibt die „Eschenhuser Elegie“ der schmerzlich vergebliche Versuch meiner Rechtfertigung vor mir selbst.
Um mich aus meiner Trübsinnigkeit herauszureißen, baten mich meine Töchter, mich ihnen auf ihrer Harzreise anzuschließen. Die Ernährung war schon schlecht geworden. Dort sollte Waldluft und die Milch der Harzkühe uns auffrischen. Ursula hütete das Haus. Ich weiß noch, dass ich mich nur schwer zum Mitgehen entschloss. Etwas in mir wehrte sich. Ich stand lange vor dem blühenden Kirschbaum an der Hausseite — und ging dann doch. Die kleine Stadt Stolberg am Südhang des Harzes lag still inmitten alter Waldungen. Von der Höhe herab schaute das alte Grafenschloss der Stolbergs. Ein schmaler Saumpfad führte in halber Berghöhe rund um das Städtchen im Tal.
Mich interessierte auf einem morgendlichen Spaziergang am Stamm einer uralten Buche ein Schild mit den Worten Dr. Martin Luthers, das ich mir notierte: Als Anno 1525 Freytags nach Ostern Lutherus hier geprediget und mit dem Herrn Reiffenstein nachgehend auf den Berg spazieret, verglich der Doktor die Stadt gar füglich einem Vogel: das Schloss, meinte er, wäre der Kopf, zween Gassen wären die Flügel, der Markt der Rumpf und die Niedergassen der Schwanz.
Unter den alten Fachwerkhäusern gab es den Ratskeller und eine gute Weinstube. Ich erholte mich schnell und ward meiner Versunkenheit schneller entrissen, als meine lieben Töchter geglaubt hatten. Es liefen dazu bei der kleinen Stolberger Post besonders reichlich Honorare ein. Und es war da das junge Fräulein Juliane Gertrude, an deren Schule für höhere Töchter, die sie leitete, ich aus meinen Gedichten las, bei der ich dann an vielen Nachmittagen in ihrem lieblich gelegenen Gartenhäuschen am Kaffeetische saß und die Wohltat eines reifen fraulichen Wesens mit Hingabe um mich fühlte. Ich wollte es vor mir nicht wahr haben, aber es war doch so: ich war bis über beide Ohren verliebt. Selbst in Paris und Bordeaux (siehe Übersetzungen meiner Verse ins Französische!), wohin ich gerufen wurde, um dort an den deutschen Akademien zu lesen, blieb sie mir immer vor Augen, und ich suchte nach bunten Seidentüchern für sie mehr als nach den Sehenswürdigkeiten der Städte. Trotzdem lag über dem Ganzen eine Melancholie, auch auf des Mädchens Seite.

Ich war im Traum gestorben
und lag vom Tod gestreckt
und sah dich bitter weinen.
Das hätt‘ mich fast geweckt.

Und eine deiner Tränen
auf meine Wange sank.
Da ward der Tod so süße,
dass ich ihn lächelnd trank.


Mit den Töchtern ins Eschenhus zurückgekommen, begriff ich mich selber nicht und noch weniger meine Verse. Dennoch musste ich sie als solche anerkennen. Aber mein Herz blieb voll Unruh. Bald nach Berlin, bald nach Zoppot gingen überschwängliche Briefe an diese und jene, ich wusste mich nicht zu zähmen. Und Gedicht häufte sich auf Gedicht:

An Margot

Daß einer in der Ferne weiß,
den andern weiß, ist wunderschön.
Laß mich in deine bitterernsten
Fischermädchenaugen sehn!

Wann war es doch? Wann war es doch? –
Es ist wohl tausend Jahre her.
Die Seele war wie weite See.
Die Wogen gingen schwang und schwer.

Wo war es doch? Wo war es doch? –
Im fernen Lande Wundersam.
Die See, die sang und sang ihr Lied,
das uns in seine Arme nahm.

Und ist es doch zuweilen mir,
als ob es gestern erst geschah,
daß ich in deine bitterernsten
Fischermädchenaugen sah.


Hermann Claudius 1941


Dazwischen kamen die Bremer Groß-Abende mit dem Generalkonsul Ludwig Roselius und seiner schönen jungen Gattin, wie ähnliche Abende schon zu Lebzeiten Franziskas gewesen waren. (siehe auch Brief vom 8.4.1932). Ich fuhr in einer Novembernacht mit dem Gauleiter Otto Telschow, dem Heidekönig, wie er sich nannte, von Bremen nach Hause. Er hatte mir das frühe Aufstehen am andern Morgen ersparen wollen. Wir waren beide in etwas animierter Stimmung. Der prächtige Maybach fuhr gut. Wir redeten mit einander. Da meinte Telschow, ich solle doch endlich die christlichen Ambitionen meiner Kinderstube zum Teufel jagen, damit ich ein brauchbarer Poet werde. Dabei nannte er Jesus Christus, auf dessen Gestalt und Erscheinung ich hingewiesen hatte, einen Judenbengel. Ich tippte dem Chauffeur auf die Schulter und hieß ihn halten, damit ich aussteigen könnte. Telschow fuhr mich an: „Sind Sie verrückt! Wir sind auf mitternächtiger todeinsamer Heide, Mensch!“ Dabei ergriff er mich am Arm. Ich riss mich los und sagte ruhig: „Ich kann nicht weiter mit Ihnen fahren“. Da sah er mich groß an, holte tief Luft und sagte mit einer Stimme, die ich so ernst an ihm gar nicht kannte: „Sie sollen Recht haben. Meinetwegen. Ich nehme das schlechte Wort zurück“. Nach einer Weile, als wir inzwischen viele Kilometer weiter gefahren waren, sagte er langsam und über sich selbst betroffen: „Claudius, das ist das allererste Mal, dass ich als Gauleiter mein Wort zurückgenommen habe.“ Wir sind durch diesen Zwiespalt dennoch einander menschlich näher gekommen, wie sich später erweisen sollte.

VII.
Es war danach wiederum eine Weggabelung in meinem Leben. Zwar trat diesmal kein Mensch dabei auf. Es war ein Anderes. Ich stand vor Gott. Ein [Blasen] Leiden machte eine Operation notwendig, nachdem ich durch Wochen unerhörte Qualen ausgestanden hatte. Da lag ich nun im weißen Bett des Hafenkrankenhauses, wo meine verstorbene Frau vor gut zwei Jahren auch gelegen hatte. Da lag ich und dachte nach. Freund Henning Brütt, der Professor und große Chirurg, hatte mehr Geduld mit mir als ich mit ihm. Endlich konnte die Operation stattfinden. Und sie gelang. Danach lag ich völlig entkräftet und war mit mir mutterseelenallein. Unklare Verse bewegten sich wie Wellen durch mich hin, ohne dass ich die Lust verspürte, sie niederzuschreiben. Es war ein wahrhaftiger Ernst in mir, sterben zu wollen. Eine Sehnsucht, nicht mehr zu sein, ließ mich alle Speise abweisen. Kaum, dass ich nach Atem begehrte. Ich lag da und sah das Band meines Lebens vor meinem innern Auge ablaufen und sah lauter dunkle Bilder, die mich wie Masken anstarrten. Da geschah es mir, wie ich es später in der Strenge des Sonetts darzustellen versucht habe:
Als ich in meinem Schmerzensbette lag,
ein elend Häuflein Knochen, Haut und Sehnen —
ich hörte meinen eignen Atem stöhnen
und wusste nicht, ob Nacht es sei, ob Tag [AL 20]

PS: Auf einem Tanzabend im Curiohaus-Hamburg im Februar 1953 fasste plötzlich aus der Tanzreihe ein junger Mensch meine Hand und fragte: Sie sind Claudius? Ich bestätigte es. Da stotterte er erregt: Die drei Isenheimer Sonette . . . das ist was! Ja — das ist was! – – damit schob uns der Tanztrubel wieder auseinander.
Dass ich die Form des Sonettes wählte, hatte bereits seine Vorgeschichte. Im Spätsommer 1941 las ich im Luxemburgischen. Dort zu Echternach in einem ehemaligen fürstlichen Rokokogarten mit verlassenem Schlösschen entstand das erste und zweite der sieben Echternacher Sonette, wie ich sie meinem Sonettenband „Aldebaran“ unter dieser Bezeichnung vorangestellt habe. Ich las sie öffentlich aus dem Manuskript zuerst im November in München vor einem Auditorium von ca 800 Menschen, darunter auch (wie ich hinternach erfuhr) Hans Scholl und seine Schwester und die anderen Verschworenen der „weißen Rose“saßen. Die Sonette machten einen starken Eindruck auf die Hörer, Hans Brandenburg und Josef Magnus Wehner bewunderten meinen Mut, dessen ich mir zwar durchaus nicht bewusst geworden war. Namentlich war es das siebente der Sonette, dass ich im privaten Kreise danach noch wiederholen musste:

Es scheint der Mond mir bleich in mein Gemach.
Die Lampe losch, bei der ich still geschrieben.
Mein Herz ist voll von Lieben, lauter Lieben –
daß es vor lauter Lieben fast zerbrach.

Vermöcht‘ ich doch der Welt zu helfen! – Ach! –
Sie wird von Tod und Teufel umgetrieben.
Wo sind die heitern Götter all geblieben?
Und welcher Gottheit stürzen jäh wir nach?

Denn ohne Götter sind die Völker tot.
Die sonst der fromme Glaube stumm gebunden,
wie Hundekläffen lärmen leer die Stunden.

Mich schreckt erschauernd meines Volkes Not.
Und wie ich sinne – Dunkel ist und Schweigen –
da seh ich aus der Engel heiterm Reigen
den alten Gott sich lächelnd zu mir neigen.

[BL 57]

[In seinem Manuskript „Dasein im Gedicht“ änderte der Dichter die achte Zeile in:
Und welchen Götzen stürzen jäh wir nach?
Die beiden letzten Strophen wurden bei Übernahme in „Aldebaran“ (AL 18) geändert ]

Die damalige Ergriffenheit der Hörer war für mich um diese Sonette lebendig geblieben. Und nun fügten sich meine Gedanken auf meinem langen Krankenlager von selber in diese Form hinein, ohne dass ich es sonderlich beabsichtigt hatte. Von diesen Gedanken, die mich aufwühlten und in mir selber umkehrten, spürte damals niemand etwas. Die Ernährung, es war das Jahr 1942, wurde immer schlechter. Ich bedurfte mit meinen 95 Pfund sehr der Pflege und entkräftete immer mehr. Otto Telschow musste von meinem Zustand erfahren haben; denn er kam in seinem Staatswagen in den Krankenhof und saß an meinem Bette und sah mich lange an, ehe ich ihn in meiner Mattigkeit erkannte, und befahl einem Begleiter, mir wöchentlich Butter und Weißbrot und Eier ins Krankenhaus zu bringen. „Der Knabe darf noch nicht verrecken!“ sagte er in seiner bärbeißigen Manier. Und so ist der Knabe nicht verreckt und kann davon erzählen. Danach habe ich den Mann nicht wiedergesehen. Er soll, wie ich hörte, beim Zusammenbruch freiwillig in den Tod gegangen sein.
Zuhause endlich wieder angekommen, schrieb ich in der Stille meiner Stube mit dem Blick auf die grünen Weidenflächen jene hundertundelf Sonette, die nach langem Hin und Her 1943 im Herbst bei Langen/Müller erschienen. Der neue nationalsozialistische Verlagsleiter hatte auf Anweisung von Berlin her die Ausscheidung aller christlich-religiösen Sonette verlangt. Ich tat es nicht und drang am Ende mit meinem Willen durch.
Im Jahre 1942 verlieh mir der Hamburger Senat aus den Händen des Regierenden Bürgermeisters Carl Vincent Krogmann den L e s s i n g p r e i s.Ich ward zum Bürgermeister in seine Kanzlei ins Rathaus geladen, ging in sehr widerspruchsvoller Stimmung hin und fand mich dort ihm und dem Pressechef Dr. Paul Lindemann allein gegenüber. Krogmann überreichte mir die in rotes Saffianleder preislich geborgene Urkunde mit der Unterschrift des Reichsstatthalters Karl Kaufmann. Und während wir am Rundtische eine Flasche guten Weins auf das Wohl der Vaterstadt leerten, erklärte mir der Bürgermeister, dass er diese Morgenstunde in aller Absicht gewählt habe, weil er mit der Verleihung des Lessingpreises an mich als Dichter nur nachhole, was die voraufgegangene Regierung versäumt habe. Auch — meinte er lächelnd — wäre es für mich am Ende etwas widerspruchsvoll gewesen, wenn dieser Akt im großen Kaisersaal des Rathauses vor sich gegangen und ich also zu einer Rede verpflichtet gewesen wäre, der NSDAP für ihre Anerkennung zu danken.
Erst später erfuhr ich, daß während der SPD-Regierung Hans G r i m m der Lessingpreis angeboten worden sei, er ihn aber abgelehnt habe mit der Begründung, dass er erst n a c h mir dafür in Frage käme. Worauf keiner von beiden ihn bekam, sondern der Goethe-Forscher am Neckar Dr. Gundolf.

Es war die Zeit der nächtlichen Bombenwürfe. Meines Nachbarn Strohdachhaus ging in Flammen auf. Ich half den Stuhlwagen aus der Tenne ziehen. Hinter uns brach der Giebel zusammen. In Leipzig wurden durch Bombenangriffe die fertig gedruckten Sonette bis auf einen geringen Rest vernichtet. Ende Juli 1943 erlebte ich im Eschenhus, wie Hamburg von Bombengeschwadern zertrümmert wurde und in Flammen aufging. Unser Haus erbebte bis zum Grund wieder und wieder. Wir hockten im Keller eng aneinander und horchten, so viel es möglich war, auf den Ansager des Rundfunks. Das Schicksal war uns gnädig. Eine einzige Scheibe zersprang. Nach der vierten Angriffsnacht, meine Tochter Ulla hatte gerade am Flügel eine Beethoven-Sonate gespielt, kamen kluge Leute und zogen uns fast mit Gewalt in ihren bereits überfüllten Autobus. Sie schilderten uns in aufgeregten Worten, dass wir am Rande der Trümmer verhungern und verdursten müssten. Wir irrten im Autobus durch die brennende und rauchende Stadt und über die Elbbrücken hinweg weit in die Lüneburger Heide hinein. Wir hatten das Gefühl, dort nur ungern aufgenommen zu werden. Es entstand die „Hamburger Elegie 1943“, von der ein Stück den Auftakt von „Nur die Seele“ 1947 bildet.
Nach fünf Tagen trieb es uns wieder ins Eschenhus zurück. Und es war gut, denn fremde Hände hatten sich schon daran versucht. Nach der Bombennacht war ich frühmorgens nach Eilbeck geradelt, wo mein Bruder Paul, Kantor an der dortigen Friedenskirche, sein Haus hatte. Es stand noch, wenn es auch schwere Arbeit gekostet hatte, die Brände abzuwehren. Meine alte Mutter hauste damals im Claudius-Heim zu Wandsbek, ich hatte sie dort allwöchentlich besucht, hatte Kuchen oder eine halbe Flache Wermut mitgebracht und behaglich mit ihr in dem engen Stübchen gesessen und geplaudert. Der Kanarienhahn flog auf den Tisch, pickte Krumen und wagte sich zum stillen Vergnügen meiner Mutter auf den Finger ihrer hingehaltenen Hand.
Auf meinem Rad wollte ich auch das Claudius-Heim aufsuchen, aber die überall zerstreut liegenden Glasscherben zerschnitten mir den Hintermantel meines Rades, ich musste nach Hause schieben. Nach der dritten, der furchtbarsten Nacht, als der Südwind die tote Asche über das Eschenhus und seine Bäume warf, war ich wieder auf dem Rade in der Stadt und sah zu meinem Erschrecken, dass vom Claudius-Heim nur noch Mauerreste übrig geblieben waren. Ich suchte mit meinem Bruder zusammen lange nach der Mutter und fand sie endlich unter den andern Insassen des Heims, als sie gerade auf einem Kraftwagen in das Altersheim nach Farmsen überführt werden sollte. Ich ließ es mit zwiespältigem Herzen geschehen, weil mir Farmsen sicherer schien als das Eschenhus.
Vier Wochen danach habe ich dann die Mutter zurückgeholt. Durch den Brief einer Rote-Kreuz-Schwester erst hatte ich erfahren, dass die Mutter in Neustadt angelangt sei. Ich mietete ein Auto und fuhr hin. Meine Mutter glaubte zu träumen, als ich plötzlich vor ihr stand. Als sie zu uns in den Wagen einstieg, Ulla war auch mitgefahren, wollten alle anderen alten Damen und alten Herren mitgenommen werden. Es war ein großer Jammer, aus dem wir herausfuhren. Zuhause bekam meine Mutter ihre Stube und saß dort in Frieden und sah von ihrem Fenster aus abends in die untergehende Sonne und freute sich an den bunten Wolken. In aller Geduld ertrug sie die vielen nächtlichen Kellerstunden, wenn die Sirenen geheult hatten, und schleppte ihr letztes bisschen gerettere Habe in rührender Weise jedesmal mit hinab. Sie feierte noch in aller Lebendigkeit ihren neunzigsten Geburtstag, ein Jahr später ist sie infolge eines Unfalls gestorben. Ich habe ihrer in Gedichten seit 1920 oft gedacht. Und im „Aldebaran“ widmete ich ihr das folgende Sonett:
Und als mein Herzschlag unter deinem schlug,
du meine Mutter, war dir bang zumute.
Denn ich war nicht aus jenes Mannes Blute,
den deine Liebe tief im Herzen trug . . . . . [AL 27]

Wenn sich vor dieses Sonett schon der Schleier der Maja leise niedergelassen hat, so ist es mir zu Mute, als sänke er über die folgenden Zeilen nur noch tiefer herab. Denn es wird immer ein Unerklärliches bleiben und soll es bleiben, wie es im Mai 1944 auf „Boje“, dem Obstgut des Baron von Rössing, zu Gifhorn in der Lüneburger Heide begann:
Du standest unterm Apfelbaum
und maltest seinen Blütentraum.
Ich wartete am Gartensaum. . . . . . [GI 3]

Oder wie es an anderer Stelle heißt inmitten jener Verse, die mich im Wirbel schier überfluteten:
D U Wundersam, das mir geschah,
Du Gotteswunder: Gisela . . . . . [GI 2]

Am 8. August 1944 fand in Arnstadt in Thüringen unsere Hochzeit statt. Das Standesamt lag in einem Waldtal, das Himmelreich hieß. Der alte Vater Beck vom Hotel zum Schwan steckte mir nach dem Abendessen noch heimlich eine gute Flasche zu, die damals schon etwas Seltenes geworden war. Und für eine superbe Eistorte in Gestalt einer zierlichen Taube hatte er zum Beschluss des Hochzeitmahles auch noch gesorgt. Möchten ihm die Russen das Leben nicht gar zu schwer machen!
Mein Schwiegervater und mein neuer Onkel — beide jünger als ich — beide alte Fregattenkapitäne — von Voigt und von Rössing — waren unsere Trauzeugen.
Die Nachbarn vom Eschenhus machten große Augen, als ich mit der jungen Frau am Arm daherkam. Aber die Gisela war sehr bald in Gnaden aufgenommen und gehört heute zum Dorf, als ob sie in Hummelsbüttel geboren wäre.
Wenn ich an einer früheren Stelle dieser Aufzeichnungen den Dr. Stapel als jenen Mann genannt habe, der mir den Anstoß zu meinem ersten Buche nach 1945 gegeben habe, so ist das cum grano salis zu verstehen. Zwar formte sich durch seine Entdeckung der „sieben Donner“ das Ganze zu den „Sieben mal sieben deutschen Gedichten“ – – aber ohne Gisela wären die Sonette mein letztes Buch geblieben. Den Quell, der neu und hell aufsprang, hat sie mit ihrem Zauberstabe aus dem Steine geweckt. Wie Gisela mir denn eines Tages ein Gedicht heimlich auf den Schreibtisch legte, das zu meiner Überraschung und ungeheuren Freude sie selber geschrieben hatte — und das keine Reimerei bedeutete, sondern eben ein Gedicht. Auch an dem „Lied Sulamit“ bin ich Gisela schuldig geworden. Das Lied ist eine freie Überarbeitung des Hohen Liedes Salomonis aus dem Alten Testament. Vor gut zehn Jahren hatte dieser Versuch begonnen und war unfertig liegen geblieben. 1946 nahm ich die Arbeit wieder vor, eng an den kleinen Feldofen gedrückt, der für alle die einzige Wärmequelle in dem kalten kohlenarmen Winter war. Hier hockten wir, ein halbes Dutzend Menschen, monatelang zusammen. Denn mit Kriegsende hatten auch meine ausgebombten Schwiegereltern bei uns Zuflucht gefunden und hausten in den zwei schrägen Kammern dicht unterm Dach. Aber das Hohelied kam nicht weiter. Es ward langsam Frühling und Mai, und Giselas Geburtstag stand bevor. Ich schrieb ihr einen Vers nach meiner Gewohnheit. Und damit war ich plötzlich in den Ton dessen hineingekommen, was ich gewollt hatte:
Ich liebe dich wie der Wald den Baum.
Wie der Bach die Welle, so liebe ich dich . . . . . [S 14]
Dieses Lied ward dann allerdings in dem Wechselgesang zwischen dem Manne und Sulamit der letzteren zugeteilt. Aber sagt Freund Binding nicht irgendwo, dass die Frauen dem Dichter gegenüber die Zeugenden sind?
Wie unser Leben sich dann in den harten Nachkriegsjahren weiter gestaltete, habe ich in der „Ulenbütteler Idylle“ zu gestalten versucht, die aber als Ganzes unzulänglich geblieben ist. Eben vorher kam der „Garten Lusam“ heraus. Wer meine Gedichte kennt und vor allem meine Ulenbütteler Idylle, wird wissen, dass ich zu Pflanze und Tier ein unmittelbares Verhältnis habe. Meine Lust zu zeichnen hatte mir die Augen dafür schon früh geöffnet. Die anspringende Kraft der Pferde, die dumpfe Gelassenheit der Kühe, die Anmut der Katze sprachen mich besonders an. Hunde mochte ich weniger leiden.
Vor allem aber und immer wieder und sommers wie winters, im Herbst wie im Frühling waren es die Bäume, wie sie auch unser Eschenhus umstanden: die Eichen im Frühlingsfiligran ihrer Blüte, die Buchen im Gold ihres herbstlichen Laubes, die Kastanien in ihrer sommerlichen Geschlossenheit und wie winkende törichte Mädchen im Tändelgewand die Birken.
Dazu die kecke Blaumeise, die zierliche Grasmücke, das trauliche Rotkehlchen, die schwirrenden Schwalben, die jubelnde Amsel, der hämmernde Specht. Hier aber will ich ein kleines Erlebnis mit einem jungen Kuckuck erzählen, obgleich es nur wenige Tage gedauert hat.
Meine Frau und ich saßen im Mai 1948 in unserer Laube hinten im Garten beim Morgenkaffee, als ich einen hüpfenden und immer wieder purzelnden Vogel auf der Kuhweide nebenan entdeckte. Er sah fast wie ein Sperber aus. Ich kletterte über den Zaun und hatte bald den Vogel gegriffen. Es erwies sich, dass es ein eben flügge gewordener Kuckuck war, der von irgendeinem Feinde eine Kopfwunde davongetragen hatte; zudem lahmte er mit dem linken blutenden Flügel. Ich türmte auf dem Rasen aus Drahtgeflecht einen Schutzwall, stemmte eine Sitzstange hindurch, setzte den Kuckuck darauf und fütterte ihn mit Regenwürmern. Zu meiner Freude nahm er sie begierig und mit weit aufgerissenem Schnabel aus meiner Hand an. Er hüpfte auch nach einigen Tagen im Garten hinter mir her, wenn ich an den Graben ging, ihm Metten zu holen. Er saß auch auf meinem Zeigefinger der rechten Hand und sah mich zutraulich aus seinen bernsteinfarbenen Augen an. Es sprach sich im Dorfe herum. Ich stand mit meinem Kuckuck auf der erhobenen Rechten im Garten und ließ ihn bewundern. Er kam so weit, von meiner Hand in weitem Bogen herab auf den Rasen zu fliegen. Danach mussten Gisela und ich auf eine Reise. Ich zimmerte einen Käfig zurecht mit zwei Sitzstangen aus einer Kiste, deren offene Seite ich mit Draht vernagelte, weil der Vogel schon mehrfach entwischt und noch zu unsicher war, um freigelassen zu werden. Unterwegs überraschte uns ein Brief, der uns mitteilte, der Kuckuck habe am zweiten Morgen tot auf dem Boden seines Käfigs gelegen. Man habe ihn im Garten bestattet. Gisela und ich sind den Tag über recht traurig gewesen. Immer sah ich den Vogel, als säße er mir noch auf dem Finger und blicke mich voller Erwartung an. Er wird sich an dem Draht den Kopf eingestoßen haben, da Kuckucke, wie ich später hörte, keine Gefangenschaft ertragen.
Die Vorfeier zu meinem siebzigsten Geburtstag war in Eutin, wo — allerdings ein paar Wochen vorher — der Dichterkreis sich versammelt hatte. Wir saßen am Nachmittag im Vosshaus behaglich an festlich gedeckten Tischen. Professor Hofmeier, der urständige Organist an der alten Eutiner Kirche, ließ seinen Damenchor einige meiner Lieder singen, die er selber vertont hatte. Christian Jenssen sprach mich in seiner behutsamen und doch den Kern meiner Art kennzeichnenden Weise an, wonach ich selber einige Gedichte sprach. Um Mitternacht brachte dann Dr. Netolitzky mit seiner Laienspielschar „Der Morgenstern“ in der Kirche mein Spiel von Kain und Abel. Ich hatte von der öffentlichen Hauptprobe in der Kirche zu Grömitz am Tage vorher schon die große Überraschung hinter mir. Trotzdem vergaß ich, dass es eine Wiederholung sei, so stark wirkte es wieder auf mich ein und nicht nur auf mich. Es konnte keinen schöneren Abschluss meines siebzigsten Geburtstages geben. Es klang wie ein lautes verwandeltes Echo des „Oberufener Paradeisspieles“, durch das es in mir angeregt worden war. Am 24. Oktober kamen in mein Eschenhus keine offiziellen Gratulanten, aber Hans Sommerhäuser, der in seiner Hamburger Freien Presse den „Brief an einen Siebzigjährigen“ geschrieben hatte – Professor Fritz Höger, der eine lange Rede hielt, klinkerfeindlich wie sein Chilehaus – Professor Arthur Illies mit der Ölstudie meiner Hände zu dem Portrait, das er von mir gemalt und das die Kunsthandlung Commeter ins Fenster gestellt hatte – Professor Fritz Jöde mit seiner Singschar: „Jeden Morgen geht die Sonne auf“ – Pastor Meder mit seinem Kirchenchor und Dr. Saul mit seinen Primanerinnen, die Blockflöte bliesen. Vom Verlag Bertelsmann überbrachte ein Herr meine Ulenbütteler Idylle in Leder gebunden, der Verlag Otto Meissner schenkte ein pergamentgebundenes Exemplar meiner Auswahl des Wandsbecker Boten. Die Bremer Mädchenklasse von Waltraud Baranowski gratulierte mit lauter Skizzen, welche die Kinder zum „Armantje“ gezeichnet hatten. Die Gäste gingen den ganzen Tag aus und ein und bis spät in die Nacht, und Gisela blieb unverzagt. Sie hatte trotz der Schwierigkeiten Berge herrlichster Kuchen gebacken. Dabei war am 19. bereits die Familienfeier mit meinen Töchtern und Enkelkindern voraufgegangen. Solchen Tagen bin ich von Herzen hingegeben und genieße die Stille der nachfolgenden Arbeitstage desto mehr.

VIII
Ich bin wieder und wieder gefragt worden, wie ich zu meinen Gedichten käme, worin die erste Anregung dazu bestehe, ob diese im Auge, im Ohr oder gar in der Nase gesteckt habe. Und so muß ich schließlich in einer Betrachtung meines Lebens und Schaffens wohl ein Wort darüber verlieren, obwohl ich lieber schwiege.
Denn es mag bei einem Gemälde der Pinselstrich sehr interessant sein, aber er entscheidet nicht seinen Wert, sondern die Gesamtheit der Darstellung macht es. Ich bin — darf ich sagen — ein Augenmensch, dessen Blicke immer unterwegs sind, zu gegebener Stunde aber auch in aller Andacht verweilen können. Das folgende Gedicht ist sicher zuerst im Auge erregt worden, wie ich denn unzählige Verse auf meine lieben Bäume gesungen habe.

Die Bäume heben Haupt an Haupt
ins helle Morgenlicht.
Und meine Seele sieht und glaubt,
dass nicht der Tod sie bricht.

Es ist für meine visuelle Art bezeichnend, dass auch die Seele s i e h t
Es deucht mich alles wohlgetan,
was immer kommen will.
Ich sehe meine Bäume an
und bin im Tiefsten still.

Ich hatte dieses Gedicht: „Choral“ überschrieben. Und damit kam mir auch der Wunsch nach einer dritten mittleren Strophe, die das Ganze singbarer machen würde. So schrieb ich bald hinternach hinzu:
Denn E R , der dieses Baumgebreit
ins Samenkorn gesenkt,
sieht her aus Seiner Ewigkeit,
die alles formt und lenkt.

Auch der Herrgott ist wieder Auge, das hersieht. Das Lied war mir nun aber so sehr zum wirklichen Choral geworden, dass es in der 3. Strophe nicht mehr m e i n e , sondern S e i n e Bäume heißen musste. Das Gedicht ist danach mehrfach vertont worden und leitete mit Orgelbegleitung in Grömitz die Uraufführung meines Spiels von Kain und Abel ein.
In der Überschrift C h o r a l liegt zugleich der Beweis heimlich verborgen, dass auch das Ohr bei dem Werden dieser Verse beteiligt war, jenes innere Horchen, das mir manchmal das Allererste und das Entscheidende bedeuten will. Hier muss ich noch einmal jenes plattdeutsche Gedicht erwähnen, das ich im dritten Teile dieser Betrachtungen bereits anführte und das völlig auf das Horchen eingestellt ist:
Hör!
Swör atent de Eer
dör de swigen Nach‘.
In meiner verkappten Autobiographie „Das Silberschiff“ und in der Geschichte vom „Kolluhn“ (Armantje) habe ich gebeichtet, dass mein Knabenideal war, Maler zu werden. Und im „Kolluhn“ habe ich gleichzeitig dargestellt, wie sich schon im Knaben die Lust zu zeichnen mehr und mehr in den Trieb, mit Worten zu beschreiben, verwandelte. So sind viele meiner Verse dermaßen dinghaft deutlich, dass man sie nachzeichnen könnte, was im Grunde wieder auf mich als dem Augenmenschen zurückläuft. Solche Deutlichkeit der Bilder hat sicher dazu beigetragen, dass sowohl das „Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘“ wie auch „Jeden Morgen geht die Sonne auf“ zu Volksliedern geworden sind. Ähnlich wird es dem Abendlied ergehen:
„Eh ich mich niederlege,
vom Tage müd gemacht,
schau ich noch einmal gerne
auf in die dunkle Nacht.“

Die meisten meiner Gedichte sind Abend- oder Nachtstimmungen entsprungen. Und von vornherein haben die meisten und besten einen religiösen Unterton. Dieser ist mit den Jahren immer klarer hervorgetreten. In den „Liedern der Unruh“ z.B. in dem Gedicht „Das Schwalbennest“ ist das Religiöse noch durchaus vage und unbestimmt:
Und so standen wir eine selige Sekunde verbrüdert —
und wussten doch sonst nichts von unserm Geschicke
während es im Abendlied klar und geruhig heißt:
Und geh in meine Kammer
und lösch die Kerze aus
und bin mit Mnd und Sternen
im großen Vaterhaus.

In dem Bande von 1947 „Nur die Seele“ taucht dann die Gestalt Christi deutlich auf, wie sie bereits in einigen Sonetten des „Aldebaran“ (1943) hervorgetreten war: Dass ihr es wisst: durch meine Mannesseele schreitet der Herre Jesus Christ“. Daneben steht das Gedicht von der Samariterin, an dessen drei Varianten ich des Weiteren die Entwicklung eines Gedichtes zeigen möchte.

Erste Fassung (ungedruckt)
Der Pharisäer steht im Hof des Tempels,
zitternd vor ihm die Samariterin,
des Körpers Schöne in sich eingebogen,
das Flammenhaar tief ins Gesicht gedrückt.
„Es ruht auf dir des Ehebruches Schuld!
Jerusalem ist ein gerechter Richter.
Es heißt dich steinigen nach dem Gesetz!“

So der Rabbiner. Und die andern all
– die Arme haben drohend sich erhoben —
„Du wirst gesteinigt, Weib, nach dem Gesetz!“
Steht Jesus Christus nah des Tempels Wand,
neigt nieder sich und malt mit seiner Hand
Figuren lächelnd in den heißen Sand.

Und lauter wird der Ruf und gellt empor
und rennt ihn an: „Was schweigest du? — Dein Wort!“
Er aber malt bedächtig weiter fort.
Und heiser springt der Ruf ihn wieder an:
„Du Schriftgelehrtester, was ist’s mit dir?
Du scheinst der Ehebrecherischen hold!“
Und dumpf der Chorus: „Steinigt, steinigt sie!“

Da richtet Jesus Christus stumm sich auf.
Und jäh auf allen Lippen stirbt der Ruf.
Aus seinen Augen bannt sie all der Blick
aus einer andern ihnen fremden Welt,
die kindhaft nicht um Schuld und Sühne weiß.
Wie ferner Orgelton klingt nun sein Wort:
„Der unter euch, der ohne Sünde ist,
der schleudere den ersten Stein auf sie!“

Da stehn sie stumm. Es hebt sich keine Hand.
Fort stieben sie wie Blätterwerk im Wind.
Und langsam wagt die Samariterin
den Blick zu heben. Jesus Christus spricht:
„Wo sind sie hin, die dich verklagten?“ Und
wie noch das Weib, die Augen tränenfeucht
ihm danken möchte – –
An des Tempels Wand
neigt lächelnd sich der Herr, und seine Hand
malt Zeichen wieder in den heißen Sand.
Und dann zum Weibe und wie abgewandt,
als käm das Wort nicht aus ihm selber her:
„So geh und sündige hinfort nicht mehr!“

– – – – – –

Zweite Fassung
In Ängsten wirr die Samariterin.
Und: „Steinigt sie!“ — der Pharisäer Ruf.
der von des Tempels Wandung widerhallt.

Sieht einer schweigend nieder: „Jesus Christ
und malt mit seinem Finger in den Sand.

Da springt der gelle Ruf ihn selber an
wie eine Schlinge, die ihn fangen möcht‘.
Er aber, unbewegt und unverwandt
malt weiter mit dem Finger in den Sand.

Die Schlinge aber enger: „War’s nicht er,
der jüngst erst an dem Brunnen Bitternis
die Samariterin bat um einen Trunk?
Ist er der Ehebrecherischen hold?“

Hebt Jesus Christ das Haupt. Und wie sein Blick
die Schreienden umfaßt, verstummen sie.
Und seine Stimme geht wir Orgelton:
„Der unter euch, der ohne Sünde ist,
der bücke sich und werf den Stein auf sie!“

Das kam als wie aus einer fremden Welt.
Und jeder sieht den andernfragend an.
Und Jesus Christus an des Tempels Wand
malt weiter Zeichen in den heißen Sand.
Dann hebt er seinen Blick: „Wo blieben sie,
die dich verklagten?“
— Und dann worteschwer:
„so geh und sündige hinfort nicht mehr!“


Dritte Fassung („Nur die Seele 1947)

In Ängsten irr die Samariterin.
Und“: Steinigt sie! Der Pharisäer Ruf,
der von dem Tempel drohend widerhallt.
Und Jesus Christus. Schweigend vor sich hin
mit seinem Finger malt er in den Sand. .. . [N 31]

– – – – – –

Oft mag ein Gedicht dadurch geschlossener wirken, dass leise vom dem Lokalen, davon es ausging, abstrahiert wird. Man verfolge das bei dem
A w e n d l e e d:

Erste Fassung
De Sünn güng lüchen ünner.
Dat Duster rögt sick sach‘.
Int Dörp noch larmt de Kinner.
Un langsam kümmt de Nach‘.

Een Steern de kickt vun baben.
Nu ward dat ümmer mehr.
Da bört sick ut den Haben
de Maan so vull un swör.

Du sühst dat Water blenkern
as luter Gold so geel.
Und die ward so nadenkern,
as weer dat alln’s man Speel.

Un liesen stiggt he höger,
de Maan, un steit so still,
as keem he ümmer nähger
un wüss nich, wat he will.

Wo wullt du di bewahren?
As Busch un Beek un Boom
so steihst du dar verlaren,
as weer dat all’ns en Droom.

– – – –

Zweite Fassung (endgültig)
De Sünn güng lüchen ünner.
Dat Duster rögt sick sach‘.
Noch lisen larmt de Kinner.
Un langsam ward dat Nach‘.

En lütten Steern all baben
kickt un söcht na mehr.
Un dar ut sinen Kaben
bört de Maan sick swör.

Un stiggt tohögt an‘ Heben
un steit dar blank un grot
un langt dat lurig Leben
sick swigens in sin‘ Schot.

Keen Woort mehr, dat dar wanner.
En Uhl blots flüggt: hui! – –
Kümmt langsam een to’t anner,
bet allens üm un bi.


[Mit weiteren leichten Änderungen wurde es 1958 in MH 26 übernommen]

Das folgende Gedicht, entstanden im Schlossgarten zu Sanssouci, übertrug ich später ins Niederdeutsche, wobei es markante Wandlungen erlitt: (abgedruckt 1942 in „Wappen von Hamburg“)

Sanssouci

Das Haupt erhoben – leise vorgeneigt
den süßen Leib, steigt sie die Marmorstufen
nun lächelnd nieder. Und am Rand die Götter (Ur: Putten),
sie lächeln marmorn ihrer Herrin zu.
Denn eine Herrin schreitet sie herab,
des Königs Leibgeliebte, Seelverwandte,
des ungekannten Königs all der Schlösser,
die ungesehn im Umkreis rund umher,
ob deren Tore er ihr heimlich Zeichen,
die E r i c a , verliebt in Stein hieß hauen,
olivengrün den Grund und gold und purpurn.

So schreitet sie herab in Majestät:
Regina Erica et Virgo coeli.
Und ihres Leibes Süße ist ihr Thron
und ihrer Glieder Anmut ihre Krone.

Und Leid und Lust und Lieb und Trieb und Tränen
sind hingebreitet ihr, ein bunter Teppich,
den wie im Traume nun ihr Fuß betritt …

_ _ _ _ _

Sanssouci
Dar geit se moje hen int flassen Haar,
dat as en gollen Schemer üm ehr lett,
de Trepp hendal, de witte Marmeltrepp.
Un kik: de krusen Putten nickt ehr to,
as wat de Marmelsteen lebennig wör.
Un i s he ok. Denn s e kümmt dar hendal,
Regina Erica et Virgo coeli,
dat Hövt en beten bögt, as Königin.
Dar is keen Twifel, dat se dat nich weer.
Un de ehr leef hett, mutt de König we’n.
De mutt de König we’n, dar is keen Frag.
Un all de smucken Slötter in de Runn‘
de he ehr bugen leet as Morgengaw:
an seker Stell dar wahrt se de lütt Blom,
de beid jem hillig weer: Auricula.

Un Leef de is ok hillig ahn de Kron
un ahn en Ring. Se ringt sick ut sick sülm.
Un gewt en Kron, so flassen as ehr Haar?
Un föhlst du em denn nich, den Hermelin,
de fin un fee ehr üm ehr Schullern fallt
hendal bet to de Föt as Feddern licht
un so as wat he swew? —
So geit se hen.
Un wat de Eer an Lust hett un an Lück,
an Smart un Tranen un an broken Hart —
liggt as en Teppich ünner ehr. Se weet
und weet dat nich.
Un egen lacht ehr Mund.

– – – – – – –
Wer meine Seele liebt,
(lern es, einsam zu sein.
Nicht zerstör‘ seine Hand
den Mantel)

Wer meine Seele liebt,
dass ich es sage,
lasse den Traummantel mir,
den ich heimlich trage.

Ich legte ihn selber nicht an.
Es taten andere Hände,
auf dass ich die Augen ab
und um mich wende.

Denn, dass ich sage —
es sagt kein Wort es aus:
wir sind nur tief in uns selber
allein zuhaus.

Allein zu Haus und bei dem,
der die Erde schuf,
Nacht und Tag geschaffen
durch seinen Ruf.

Allein bei Ihm zu Gaste —
und bereit
mit innerem Sinne zu wissen
um Ewigkeit.

Wer meine Seele liebt,
dass ich es sage:
lasse den Traummantel mir,
den ich heimlich trage.


Hermann Claudius
4.7.1950


Ich habe meinen eigenen Versen gegenüber ein ruhiges Urteil und weiß, was meine besten Gedichte sind. Es sind zugleich die Verse, welche wie eine reife Nuss in mir aufsprangen. Ich brauchte nur stille zu halten. Und es sind auch diejenigen, welche meinem Gedächtnis sich unfehlbar eingeprägt haben, dass ich sie zu jeder Zeit ohne Stolpern hersagen kann. Dahin gehören: Es haben meine wilden Rosen – – Durchs dunkele Gezweige seh ich den Mond dort stehn – – Ich stehe im Gartendunkel und lasse die vielen goldenen Sterne durch meine Finger spielen – – Nur du hast den Schlüssel zur innersten Kammer – – Den Blumenstrauß vom Felde hab ich für dich gepflückt – – Du standest unterm Apfelbaum und maltest seinen Blütentraum – – Ich hebe meiner Seele Schale, o Herre, dir mit Händen hin – – Und wenn meine Mutter gestorben ist – – –
Wie ich an anderer Stelle bereits berichtete, war es der Vortrag meiner plattdeutschen humorigen Verse, der mir im Felde 1917/18 zu Vraulcourt in Nordfrankreich die Freundschaft Hans Grimms einbrachte, jene Verse von „Backen blewen“ bis zur „Stratenmusik“ und dem „Luftballon“, die ich auf Hunderten von Vortragsabenden immer wieder sprechen musste, selbst in Sachsen und Bayern — und überall jenen heiteren Widerhall erweckte, der Dichter und Hörer gleicherweise erquickt und keinen sauren Nachgeschmack hat.
Dass ein Dichter, namentlich ein Lyriker einmal überweg in eine literarische Abhängigkeit von einem andern Schaffenden gelangen kann, wäre im Grunde nicht verwunderlich. Und es gibt dafür der Beispiele genug.
Ich hatte insofern Glück, weil ich von jung heraus ein lässiger Leser gewesen bin bis auf den heutigen Tag. Mit fünfzig Jahren war mir Rainer Maria Rilke nur dem Namen nach bekannt. Von Stefan George lernte ich wenige Verse nicht viel früher kennen. Dagegen sind mir Eduard Mörike und der späte Goethe immer nahe gewesen, dennoch wie ein fremder Garten, den man nur mit Ehrfurcht betritt und fast scheuen Schrittes sich auf den Wegen hält.
Einmal ist eine schöne und gescheite Frau dem Poeten in mir fast gefährlich geworden. Ich lernte sie im Krankenhause nach meiner zweiten Operation im Sommer 1942 kennen und saß danach als ihr Gast oft an ihrer Lagerstatt, die sie wegen eines Leidens für Stunden des Tages immer wieder aufsuchen mußte, trank aus schönen Schalen duftenden Tee und horchte iher klaren Altstimme, mit der sie über Malerei und Dichtung ihr Urteil formgewandt abgab. Als Malerin ging diese Frau, eine Ärztin von Beruf, langsam zum Surrealismus über, der danach auch philosophisch sie immer mehr in seine Gewalt nahm.
Ich pflegte neue Verse an unseren Tee-Nachmittagen vorzulesen. Und auf diese übertrug sich mehr und mehr ihre exzentrische Art, ohne dass ich es selber merkte. „Harfe in der Nacht“ nannte ich diese Gedichte. Ich setze eines davon als Beispiel hierher:
Wenn ihr sie sähet, die Ruhende!
Ihr aber sähet sie doch nicht.
Denn was wisset ihr von der Magie des Blicks?
Goethe wußte darum
aus der Lindheimer subtilem Geschlecht
und Mathis Gotthardt Neithard, der Grünewald genannt,
der Regenbogen-Gewaltige!
O großes Vermächtnis!
Schöpferisch ist unser Auge.
Es schafft erst die Farben.
Färbe das Gras ihm rot oder gelb oder blau:
der Ochse frisst es, wenn du ihm nur
die Witterung daran nicht verdirbst!
Schöpferisch ist unser Aug‘!
Das Rot der Liebe!
Das Gelb der Erregung!
Das Blau des Glaubens!
Wunderbrecher der Seele,
das Auge erst schafft es
in seinem innersten Bezirk.
Ein Stücklein Schöpfertum wahrlich
ließ Gott uns zurück,
Spiegelbild seiner,
dass wir ihm näher seien
als Tier und Gesträuch
und Ackerkrume am Abend
und Wolke und Wind
und der Erde aufreckende Hand, das Gebirg.
Ruhende wir, hingegeben dem Blick,
offen bis in die dunkle Tiefe,
wo nur das Wunder geschieht,
wahrhaftige Schöpfung.
O wenn ihr sie sähet, meine Freundin, die Ruhende!
Aber was wisset ihr — ach!
von der Magie unseres Aug’s?


Oder dieses noch:

Wenn du die Wimpern hebst —
wenn du die Lippen hebst —
wenn du die Füße hebst —
traumwandlerisch immer
bleibst im Bereich du des Schönen
und schiebst des Erwachens
ungehobenen Schleier
träumerisch vor dir her.


Es gibt Leute, die auch die Gedichtreihe „Die Winterstube“, welche in dem Buche „Zuhause“ steht, als mir fremd bezeichnen. Aber schon 1925 erschien in dem schmalen Bändchen der „Heimkehr“ jene plattdeutsche „Dütsche Ode“, welche denselben Tonfall hat und ebenso denselben freudigen Aufschwung im letzten Gedicht.
Ich kann also zum guten Beschlusse dieses Kapitels nur in aller Bescheidenheit und Demut sagen, dass auch der schöpferische Mensch — und gerade vielleicht er am wenigsten — dem Geheimnis des Schöpferischen auf den Grund kommen kann — und auch nach ewiger Weisheit und Vorsehung nicht kommen soll. Wie es denn schon beim Vater Nestroy heißt: Kunst ist das, was man nicht kann. Kann man sie aber, so ist es schon keine mehr.
In diesem Zusammenhang mögen ein paar Stellen aus meiner Studie über Josef Weinhebers Lyrik angeführt werden, jener Studie, die ich auf Weinhebers besonderen Wunsch zu seinem 50. Geburtstag (9.3.1942) schrieb, aus der — wie Freunde sagen – auch auf mein Schaffen und unbeabsichtigt ein helles Licht fällt. [kpl. veröffentlicht in „Der Augarten“ Wien März 1942 S.97-106; hier am Schluss leicht geändert]
Wie gut, dass Du da bist! Ja, wie gut, dass Du da bist! Um Deines Werkes willen – – natürlich um Deines Werkes willen, anders darf ich es schon nicht sagen. Du schaust mich schon ingrimmig an, was? Aber lass man: Dein liebes Menschsein ist doch der Urgrund dazu. Da hat’s der Herrgott eingebettet und von da ist es ausgeflossen. Nein! Nein! Ich weiß: nicht ohne Mühen und Gewalt und Wut und Trotz und blutige Zähre. Ich will’s gar nicht bei mir abnehmen. Mir ahnt’s bei Dir schwerer. Du sagtest einmal, wir beiden seien so verschieden wie unsere Hände: meine zahm und schmal, Deine breit und wuchtig.
Aber, was sind w i r ? Das reicht alles die Ahnenreihen zurück, weit! Hie der Sachsenhügel und dort Vindobona, altrömischer Stapelplatz um Ufer der Donau. Und da hast Du’s nun so im Blut und schreibst Rhythmen, davon ich alter Norge mein Tage nichts wusste und — Gott strafe meine Faulheit! — auch nichts hinzugelernt habe: Spondeus und Palimbacchius und choriambischer Vers und sapphische und alkaische Strophen – – und was weiß ich. Da bricht denn Deine Reihe auf einmal ab — so mitten im Wort – – und ich will’s nicht recht einsehen:
– – – –
und was groß war, ruht: das gekrönte Haupt und
alle die Händ‘ der
Taten, Schwert und Kreuz, überkommne Kraft des
Zepters – – – – – –

Da wind ich mich und weigere mich ein wenig. Aber dann kommen auf einmal Stellen, wo man alles Nachsinnen vergisst, wo’s einen bei der Schulter packt und mit sich fortreißt in das Halbdunkel einer Schlucht — und die Felsblöcke hangen jäh und gefährlich über einem. Und es kriecht mir kalt übern Rücken.
Soll also jeder sein Geheimnis behalten. Und: dass es einen durchschauere – – – das eben ist das Wesen aller Kunst. – – – –
Das Reich der Dämonen! Glaube mir: ich am Wattenmeer zwischen Ebbe und Flut — ich weiß auch um sie. Aber anders als Du. Du wirfst Dich in ihre Arme um Deines Werkes willen und siehst nicht rechts noch links:
Und alle Ehr sei, aller Ehrfurcht Stärke
dem Bildwerk v o r dem Bildenden gegeben.

Lieber! Mir wiche alle Kraft, starrte ich auf mein Werk. Es ist mir genug, wenn ich meine nackte Seele vor Gottes Stuhl bezeugen kann —aus meinem
L e b e n , gar nicht aus meinem Werk. Es wird im Sterben eine schwere Stunde sein, aber schöbe ich immer mein Werk vor, es zerstöbe vor
S E I N E M Angesicht.
Wir sind alle Gefangene unseres Ich, Weinheber, und also unfrei, wir mögen uns stellen, wie wir wollen. Es fragt sich nur, ob man recht tut, immer wieder an den Gitterstäben zu rütteln, die man doch nicht brechen kann – – nicht brechen soll, Freund!
Wir Poeten und Künstler haben uns selber immer am meisten lieb. Das ist der Dämon, vor dem wir uns mit beiden Händen schirmen müssen, dass er uns nicht das Kainsmal auf die Stirn drücke. Ansonsten bleibt mir das Dämonische verdächtig als eine Art Marionetten-theater, das der Wortkönner spielen lässt, dass es den Leser graue und er die über-großen Schatten der Puppen für sie selber halte.
Aber heraus aus dem furchtbaren Zirkel und zur Allliebe hin!

– – – – – – – –

Hier knüpfe ich eine Episode ein, welche für die Zeit gleich nach 1945 (und leider auch heute noch!) ein Kennzeichen bedeuten mag.
Ich kam im Herbst 1947 mit meiner Frau in Lübeck an, wo ich einen Leseabend geben sollte. Als wir bei dem Buchhändler, der den Abend ausgeschrieben hatte, eintraten, zeigte er mir einen Zeitungsartikel, in dem jeder, der meinen Leseabend besuchen würde, ein Volksfeind genannt würde. Danach kam der Hinweis auf mein Führergedicht vom Jahre 1938. Es war eine KPD-Zeitung, wenn ich mich recht entsinne.
Ich war durchaus der Ansicht, es beim Lesen zu lassen. Es wäre wohl wieder nur das Geschreibsel eines Einzelnen. Und ein gescheiterter Abend sei immer noch besser als ein zurückgezogener.
Zwei Minuten vor Beginn kam der Buchhändler in das Künstlerzimmer, wo ich wartete, und äußerte in aufgeregtem Ton, dass der Saal voll sei, selbst die Stehplätze seien überzählig besetzt. Was werde das nur geben?
An meiner Frau vorüber, die mir beruhigend zunickte, trat ich aufs Podium. Lebhaftes Klatschen. Ich verneigte mich, reckte mich seitlich vom Pulte hoch auf und sagte, dass ich ein Wort meinem Abend voraufsprechen möchte — aus einer gewissen Veranlassung heraus.
Und dann sprach ich das folgende Gedicht mit besonderer — ich möchte sagen: anredender Schärfe:
So bin ich wohl: im Sprunge
enteilt mein Wort der Zunge.

Nicht dieses, das mit Mühen
zum Werke mir gediehen.

Doch jenes hart daneben,
daran die andern kleben,

die kleinen Wartewichte!
Die machen mich zunichte.

Zunichte nicht! Der Große
im Himmel kennt die bloße,

die Seele mir im Leibe.
Und sorgt wohl, dass ich bleibe.

Danach war Totenstille. Dann las ich und las ein und eine halbe Stunde ungestört – – nur dass zum Beginne ein paar junge langhaarige Leute den Saal eilig verlassen hatten. Im Künstlerzimmer umarmte mich mein armer Buchhändler, dem ein Stein vom Herzen gefallen war. Solchen Abend und solchen Beifall — gestand er — habe er noch nicht erlebt.
Auf dem Nachhausewege drängte sich ein junger Mann an mich und erbat meine Verzeihung, dass er nicht günstig über meinen Abend schreiben können werde, obwohl er selber davon überzeugt sei. Denn sein kleines Blatt stehe politisch nicht selbständig da – – etc.
Als ich meinte, er könne doch schreiben, dass der Saal von St.Aegidien überfüllt gewesen sei und der Beifall einmütig — empfahl er sich ohne Antwort und drückte mir verzweifelt die Hand.

IX.
Im Februar des Jahres 1948 bat mich Professor Arthur Illies, in sein Atelier nach Lüneburg zu kommen. Er wolle mich porträtieren. Das vor manchen Jahren von Ernst Eitner gemalte, darin meine Unruh jener Jahre lebendigen Ausdruck fand, war irgendwohin verschwunden. Illies hatte schon mehrmals davon geredet, dass ihm beim Lesen im Lüneburger Rathaus, als der grelle Lichtkegel des Scheinwerfers auf meinem Gesichte gelegen habe, der Entschluss, mich zu malen, gekommen sei und ihm keine Ruhe lasse.
Meine Frau und ich machten uns frühmorgens auf die Reise, damit das Taglicht ausgenutzt werde. Wir wurden herzlich aufgenommen. Illies braunen Maleraugen verschluckten mich beinah. Ich saß ihm auch, aber es wollte wenig gelingen. Auch bei einem zweiten Besuche, bei dem wir jedesmal im Hotel „Zum alten Kran“ wohnten, ward der Erfolg nicht größer. Ja, das Bleistift-Porträt, das Gisela von Illies machte, während der mich malte, schien mir das einzige Ersprießliche dieser Tage. Den guten Kaffee und Kuchen der charmanten Frau Professor zählte ich allerdings auch dazu, wie wir beisammen am warmen Kachelofen hockten um den gewohnten Rundtisch.
Wir hörten danach lange Zeit nichts mehr von einander. Nach fünf oder sechs Wochen kam ein Brief Illies‘ mit den unverkennbaren Schriftzügen, die wie getanzt anlassen: dass wir kommen möchten. Das Bild sei fertig.
Wir kamen ohne sonderliche Erwartung, wurden fast feierlich empfangen, legten die nassgeregneten Mäntel etc ab, traten in das Atelier . . . und standen fast erschrocken vor dem riesigen Gemälde und wussten kein Wort zu sagen und sahen es immer nur wieder und wieder an.
Da sitzt ein Mann mit sich selber allein auf der Gartenbank im Abendschein. Das Buch, darin er las, ist ihm auf den Schoß geglitten. Die Linke liegt schwer darauf, während die Rechte seltsam willenlos niederhängt, von Geißblattblüten wie von einem lieben Lächeln umgleitet. Geheimnisvolles Lichterlieren geistert über das Laubgewirr. Man wittert irgendwo den vollen Mond. Es blinzelt auch ein einzelner Stern durch die Baumkronen. Aber alles ist doch ein Anderes, als flüsterten Licht und Schatten einander etwas zu, das jenseitig der Worte ist und weder Beginn noch Ende weiß – –
Dazu wird der Betrachter unversehens in dies heimliche Gespräch eingesponnen, horcht und schweigt.
Das herrliche Bild — ich habe es mir mühsam abgespart innerhalb einer Jahresfrist — hängt nun im Eschenhus in der Stubennische über unserem Schlaflager, das beitage eine breite Couch darstellt. Wir betrachten es seit dem März 1948 Tag um Tag und entdecken immer neue Überraschungen. So leuchtet bei hellem Mittagssonnenlicht ein freudiges Grün über die ganze Bildfläche hin, während an Nachmittagen und erst recht gegen Abend ein schwerblütiges Braunrot alles dämpft und dunkelt.
Man möge es mir verzeihen, wenn ich eingestehe, dass ich immer wieder an jenen Tag Anno 1930 denken muss, an dem ich zu Den Haag in Holland im Mauritzhuis vor dem großen Rembrandt stand: Saul und David. Ich erzählte bereits davon.

1946 bat mich Herr Mohn sen, der Chef des Bertelsmann-Verlages, ihm eine Übersetzung des Ackermann aus Böhmen des Johannes von Saaz zu schaffen, da ihm keine der vorhandenen wirklich gefalle und er das Werk über alles liebe.
Ich kannte das Werk kaum, fand mich aber schnell hinein und immer mehr und achtete darauf, aus dem sprachlichen Gewirre überall das Zeugende des Ganzen, den Schmerz des Schreibers um seine verstorbene Frau, lebendig bleiben zu lassen.
Das Buch, das ich „Der Ackermann und der Tod“ nannte, war wesentlich schmäler als das Original. Aber mein Auftrag war voll befriedigt und ließ es mit Hilfe der Kunst von Hans Pape in ansprechender Form erscheinen.
So groß das Lob der Kritik war, so gering war der Absatz. Es wird sich aber trotzdem durch die Zeit behaupten. Das weiß ich. Ganz im Gegenteil dazu erlebte mein Wolkenbüchlein, das ich in ca zwei Wochen zusammenbrachte, in wenigen Monaten das 50. Tausend, ja 1955 das 60.-62. Tausend!

Der Bericht über mein Werk und meinen Wandel geht seinem Abschluss entgegen. Es sind drei Dinge, die ich noch zu schildern habe, obwohl mich insbesondere nur das dritte betrifft.
Hans Grimm hatte zum 14. August 1949 alle, die es hören wollten, zu einer „dörflichen Goethefeier“ im Klosterhofe zu Lippoldsberg eingeladen. Agnes Miegel, Rudolf Alexander Schröder, Will Vesper und ich sollten Gedichte lesen. Ich war schon einen guten Tag vorher da. Das Wetter, das meine Hinfahrt mit Regenböen begleitet hatte, klärte sich zusehends auf – – wie wir es durch fünf Jahre der Lippoldsberger Dichtertage schon gewohnt waren. Wir erwarteten infolge der späten und mangelhaften Ankündigung gegen 600 Gäste. Dafür wurden Holzbänke in genügender Zahl bereitgestellt. Aber am Vorabend erfuhren wir von Extrazügen und Extradampfern und drei, vier Autobussen – – und ordneten das Podium um und ließen einen Lautverstärker anbringen, weil unsere Stimmen den weiten Platz zu übertönen haben würden. Als ich am Vormittag des sonnigen Sonntages aus dem Fenster sah, war der ganze Klosterhof samt den Zugängen bis an die Kirchenmauern von Menschen – – ich muss schon sagen: besät.
Agnes Miegel sagte zuletzt noch ab. Für sie sprach Vesper ihr prophetisches Gedicht vom Jahre 1918: England! Grimm erzählte von seinem Kennenlernen der Dichtungen Goethes seit Knabenzeit und wies der Dichtung aus dem Wort heraus den Sinn des Zusammen-schauens, der Verdichtens an, wie denn nur im Deutschen das Wort vorhanden sei.
Ich werde nie den Augenblick vergessen können, wie ich vor der unübersehbaren Schar — man will über 5000 gezählt haben — stand, Buch Buch sein ließ und die beiden von Grimm gewollten Gedichte auswendig sprach und noch ein drittes — die Ode der Unruh — dazwischen schob.
Dass aber diese fast biblisch anmutende Scene der 5000 auf dem Klosterhofe geschehen konnte, das spricht für die deutsche Volksseele, und das spricht gegen alles, was vom Untergang des Abendlandes munkelt, des Abendlandes, das kaum 2 Jahrtausende hinter sich gebracht hat, während z.B. die Urzeichnungen in den Höhle zu Lascaux in der Dordogne 30 Jahrtausende alt sind, andere daneben in derselben Höhle 15000 Jahre, dass zwischen beiden 15 Jahrtausende liegen, fast ohne dass sich die Menschen, die diese Figuren in das Gestein ritzten, sonderlich gewandelt hätten.
Das Zweite, wovon ich erzählen will, ist die Aufführung des Dramas „Der Bogen des Philoktet“ des Sophokles in der Überarbeitung und Übersetzung Bernt von Heiselers durch die Laienspielgruppe „Der Morgenstern“ unter Leitung des schon genannten Dr. Netolitzky in Hamburg. Ich muss besser Inkarnation als Aufführung sagen und gebe damit bereits meine Ergriffenheit und Hingabe zu. Gisela und ich erlebten nach der Darstellung im Hause des Hauptpastors zu St.Petri Dr. Knolles einen Diskussionsabend, der zu lebhaften Für und Wider sich auswuchs und den Dichter zwang, sich deutlich für sein Werk, so wie es sei, einzusetzen. Ich fühlte mich sehr als der Ungelehrte inmitten der Redenden, aber aus einem Brudergefühl für Bernt von Heiseler heraus sprang ich auf und sprach von der Magie alles Schöpferischen, dem man von der Ebene des platten Denkens aus nicht näherkommen dürfe und könne. Dabei überreichte ich Heiseler einen kleinen Vers, der mir inzwischen gekommen war. Er hieß mich ihn vorlesen:
Da lag der Stein
behauen, aber stumm.
Du grubst dich in ihn ein.
Da ging es um
in ihm mit Urgewalt
und wurde Saat
und wuchs und ward Gestalt
und wurde Tat.

Du sahst es an
und leuchtetest vor Glück.
Und tratest lächelnd dann
in dich zurück.

Es ist eigen, dass schon bald darauf während unseres Besuches in Rittsteig bei Passau bei Hans Carossa und seiner Frau dies Brudergefühl über das Schöpferische hinweg fast noch stärker zu Tage trat. Gisela und ich können kein Gedicht Carossas mehr lesen, ohne seine Stimme zugleich zu hören, als lese er es uns wie damals in seiner leisen singenden Weise vor. Und er, Carossa, schrieb uns, dass er immer noch unsere Stimmen im Ohr habe, wenn er „Das Lied Sulamit“ aufschlage und zu lesen anfange, als läse Gisela die Sulamit und ich den Partner und er säße und höre zu.
Das Dritte betrifft eine Aufführung meines Spiels von Kain und Abel. Ich brauche nur den Brief Heinz Ohlendorfs an mich herzusetzen:
Lieber Claudius, in Aurich hättest Du dabei sein sollen! Es war ein Lehrgang, von der Regierung einberufen. Als ich hinkam, befiel mich ein gelinder Schreck: lauter Jugendliche, Erwerbslose, sehr viel sozialistische und Gewerkschaftsjugend. Ich musste mich völlig umstellen und konnte keinen Laienspiel-Lehrgang machen, wie ich ihn gewohnt war.
Ich musste die Jungen und Mädel einmal rein menschlich fassen. Am zweiten Tage las ich ihnen einige Spiele einfach laut vor: ein lustiges plattdeutsches von August Hinrichs, eine Kriminalgroteske und Dein „Kain und Abel“. Der Kreis sollte selbst entscheiden. Einstimmig: Kain und Abel. Vor allem die Sozialisten wollten es. Wir haben dann acht Tage intensiv daran gearbeitet. Für mich das Wertvollste waren die offenen Gespräche um das Spiel, um einzelne Stellen darin. Ich habe nie so tief in die Seelen junger Menschen hineingesehen, junger Menschen, die wirklich in Not waren. Sie sind in der Arbeit an diesem Spiel völlig Andere geworden.
Als wir es am Sonnabend zum Beschlusse des Lehrganges aufführten und zum Ein- und Ausgang sangen: Großer Gott, wir loben dich — da waren alle die Ehrengäste: Regierungspräsident und was sonst bei solchen Gelegenheiten da ist — ganz erschüttert. Ich habe schon viel getan und erlebt um ein Spiel herum, aber so etwas wie diese Woche noch nicht.
Ein englischer Gast, der zu Beginn des Lehrgangs Begrüßungsworte gesprochen hatte und auch zum Abschluss da war, meinte: die meisten der Teilnehmer hätten zu Beginn ihren ganzen Gesichtsausdruck im Unterkiefer gehabt. Und er habe mich bedauert, mit ihnen arbeiten zu müssen. Bei dem Spiel aber hätten alle ihren Ausdruck deutlich im Auge und auf der Stirn getragen.
Lieber Claudius, es waren anstrengende Tage und erforderten vor allem zu Beginne ein ständiges Wachsein. Aber es war doch schön, als wir zum Schluss alle wie eine große Gemeinschaft standen und uns das Auseinandergehen recht schwer ward.
Soviel wollte ich Dir doch davon schreiben.
Dein Heinz Ohlendorf
Das solches an der Hand eines biblischen Stoffes geschehen konnte, deucht mich ein Zeichen am Wege und lässt mich diese Seiten inmittender Gewaltsamkeiten unserer Tage mit einer frohen Hoffnung schließen. Der Bärenreiter-Verlag zu Kassel brachte das Spiel heraus, Gisela entwarf den Einband.
Unser Werk ist ausgetan.
Nun geh das eure an.
Von diesem Orte das Wort
wandre mit euch fort
und lasse euch nicht.
Es sei Gericht
eurem Denken und Handeln,
die Bosheit der Welt zu wandeln.

Gott hat das Wort uns gegeben,
nach dem ewigen Leben
zu trachten.
Möge es in euch machten,
wie E R es gedacht.
Gott gebe euch allen eine gute Nacht.


Nach dem verunglückten Versuch, bei Hans Dulk-Hamburg eine Auswahl meiner Lyrik herauszubringen — wenn immer schon eine 1000-Auflage des Bändchens „Mein kleines Gedicht“ dabei zustande gekommen ist – -lag ich eine lange Zeit seelisch brach und reiste hin und her und gab Leseabende.
Dann waren es im Januar-Februar mit Nachläufern bis in den April Sonette, die mich in wahrhaftigem Sinne überfielen. Und zwar kam es so, dass ein Gedanke immer drei Sonette zusammenschloss. De Anfang war eigen:
Weihnachten 1954 schenkte mir mein Schwager Dr. Roggenbuck zu meiner großen Freude und Überraschung eine schmale goldene Taschenuhr, wie es solche heute gar nicht mehr gibt.
Ich dankte ihm in drei Sonetten, worauf er seinerseits drei Sonette als Antwort sandte. Damit wäre es mit den Sonetten wahrscheinlich zu Ende gewesen, wenn nicht das seltene Malheur passiert wäre, dass mir diese herzlich schon geliebte Uhr, nachdem ich sie erst drei Wochen mein eigen nannte, beim abendlichen Koksaufschütten im dunkeln Keller aus der oberen Rocktasche rutschte (wohin ich sie am Morgen gesteckt hatte, um sie in meine Arbeitsstube hinüber zu tragen —was ich aber über die eingelaufene Post ganz und gar vergessen hatte) unbemerkt auf meine Koksschaufel und in die Glut des Ofens gelangte. Am andern Morgen fiel sie meiner Gisela beim Stökern der restlichen Glut in die Hände: schwarz, verbrannt.
Wir waren völlig außer aller Fassung, und erst langsam dämmerte uns auf, wie alles gekommen war. Fünf Stunden hatte die Herrlichkeit noch im Glutofen gegangen. Nun stand sie auf immer still.
Dem Schwager wagte ich nur in abermals drei Sonetten das Unglück zu beichtigen. Und ich erlebte das Wunder, dass die schwarzgebrannte Uhr eben durch die Sprache meiner Dichtung mir näher gekommen war, als es jemals die normal-tickernde und goldig-schimmernde vermocht hätte.
Damit war die Sonettenflut ausgebrochen und überrannte in mir alle Deiche des Verstandes, dass doch Sonette etwas Überlebtes seien.
Auf der Tagung des Eutiner Kreises las ich aus dem entstandenen Buche „Wir sind das Wort“ (dann „Abendländische Sonette“ 1955 — endgültig jedoch: Und dennoch Melodie) einige Proben, die starken Eindruck hinterließen. Inzwischen hatte die Monatsschrift „Nation Europa“ auch deren veröffentlicht, wovon allein die drei Sonette „Deutschland“ ein begeistertes Echo fanden. Der Verlag Marion von Schröder (durch den hingerissenen jungen Dr. Walter Müller veranlasst) wollte das Buch zum Herbst 1954 bringen. Doch irgendeiner verhinderte das Erscheinen (Hanns Henny Jahnn, ohne dass er das Manuskript überhaupt zu Gesicht gehabt hatte; er leugnete es aber gegenüber xx — durch einen Freund befragt, gab Jahnn an, nichts davon zu wissen).
Im Letzten war dieser Eingriff einer jener mephistophelischen Kraft, „die stets das Böse will und stets das Gute schafft“. Ich setzte mich noch einmal daran, feilte und kräftigte, was uneben oder schwach war und fügte neue Sonette hinzu: Bas — Das Märchen — Nocturno — Es lebt das Tier — Dominant-Akkord. Andere schied ich aus: Scherzo — Zu Haseldorf — Dem Schlafe — Das Wasser — Christiane — Walzer etc.
Wo immer ich bisher daraus las (allerdings in Ansehung des betreffenden Hörerkreises) hatte ich besonderen Erfolg. So wird sich am Ende auch noch ein Verleger finden, da Bertelsmann ablehnte.
Ich hatte die neuen Sonette schon eingeschlossen. Es kam anders: Unser alter Freund Carl Westphal lernte sie auf einem Besuch im Eschenhus kennen, nahm sie mit nach Hause und sandte mir am andern Tag den unterschriebenen Vertrag: 3000 Auflage. Etwas mußte außen bleiben, weil wir nicht über 4.50 DM hinausgehen wollten. Erfolg? Leider bis kurz vor Weihnachten ca 400 Exemplare! Davon hat die Claudius-Buchhandlung zu Wandsbek (mein Schwiegervater Otto Helmuth von Voigt) 2/3 verkauft. Der Buchhandel ließ mich völlig im Stich.
Am 18. Februar 1956 Feierstunde zur Namensgebung der „Hermann-Claudius-Schule“ zu Marl/Westfalen. Amtsdirektor Dr. Karutz hielt die Festrede. Das gesamte Programm wurde auf Magnetophon aufgenommen und auf meinen Apparat im Mai 1956 übertragen.
Im April lag ich drei Wochen krank — mit toten Füßen.
Otto Flath, der Holzbildhauer zu Segeberg, ist mir Freund geworden und schneidet mich in Holz, war zu Vorstudien schon mit Burmesters (fabelhafte Menschen!) im Eschenhus. (Die Skulptur stand dann jahrelang in der Pausenhalle der Hermann-Claudius-Schule in Marl, bis sie, von Schülern reichlich bemalt, dem Skulpturen-Museum in Marl übergeben wurde, wo sie heute noch aufbewahrt wird.)
Hans Dulk, der nur 1000-Auflage von meiner Auswahl, die er selber sehr verringert hatte, wagte, mir dann die Rechte zurückgab, bringt jetzt 1956 in seinem Almanach „Die Brigantine“ meine „Hamburger Hymne“ (1925) samt meinem Foto.
Kuno Schneider, ein alter Kollege aus Langenhorner Schultagen, lässt am Jungfernstieg (wo im Untergrundbahnhof an der Luksch-Säule schon ein plattdeutscher Spruch von mir steht) und an der Alsterquelle und wer weiß, wo sonst noch überall, einen Scherzspruch von mir aus den zwanziger Jahren fein aufmalen:
Smit hier keen Papier hen, Mann.
Kik, dat wasst ja doch nich an!

So scheine ich trotz offizieller Abgesägtheit etc nicht totzuschweigen zu sein — weder im Ernst noch im Scherze. Dat makt mi doch Spaß – – – und um Gisela‘s willen noch hundertmal mehr!
Der Klaus-Groth-Preis wurde mir 1956 verliehen. Die Gattin des Ministerialdirektors Dr.Dr.Ernst Kracht, die Dithmarscherin ist und plattdeutsch sprechen konnte, wie auch Dr. Gustav Hoffmann seine Würdigung meiner Dichtung plattdeutsch sprach.
Ein kleines Krippenspiel, das Edgar Ernstling von mir sich erbat und das ich ihm schrieb, erscheint nun im Bärenreiter-Verlag unter Rudolf Mirbt. Gisela und ich waren in Othmarschen bei der allerersten Aufführung vor und mit der Gemeinde, ganz überrascht. Erschienen Nov. 1956, Neuaufl 1958
Es sind mir ein paar Gedichte gekommen, fast gegen meinen Willen. Eins sandte ich Lahusen, dass er es komponiere, weil e r es allein kann. Gab es bald zurück: er sei alt geworden… Ich gab es Fritz Kleist-Kassel.
Holstein — nicht etwa Hamburg — Gott behüte!! will mir helfen, meine Lyrik zu sichern. Es soll auch schon ein Verlag an der Angel sein. „Gesammelte Werke“ 2 Bände à 256 Seiten. Lyrik und Prosa in Leinen zusm 10 M bei Christian Wegner-Hamburg. Auflage 3000 zu Ostern 1957.
Alles Nähere im Tagebuch Giselas seit 1947, genau ad protocollum genommen wie seinerzeit es Frau Rebecca getan haben soll, deren Tagebücher verloren gegangen sind.