Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘

Das Schicksal des bekanntesten Gedichts von Hermann Claudius

An der wechselhaften Geschichte eines Liedes kann man vieles lernen: wie sich ein Gedicht von seinem Dichter emanzipiert, wie sich ein harmloses Wanderlied in ein politisches Kampflied verwandelt, wie Literatur für politische Zwecke benutzt wird, wie sich völlig unterschiedliche gesellschaftliche Zustände in einem Gedicht wiederfinden, kurz: welch erstaunliche Wirkung Literatur haben kann.

Mit uns zieht die neue Zeit. 1939 analysiert Bertolt Brecht die Ambivalenz des Verses, dessen „unerhörte Verführungskraft“. „Keine andere Zeile eines Liedes begeisterte die Arbeiter um die Jahrhundertwende stärker als die Zeile.“ Sie gibt der „Phantasie Raum“, gerade die Unbestimmtheit „hat lange ihre Stärke ausgemacht“. Diese Kraft ist aber zugleich ihre Schwäche, denn sie kann – was Brecht konstatieren muss – „von den Verführern der Massen ausgenutzt“ werden. Dass das Neue der Zeit offenbar beliebig gefüllt werden kann, belegt für Brecht die „Vagheit und Leere“ des Verses, letztlich ist es nichts als „Gerede“, eine Variable für jeden Zweck. Die Geschichte des Liedes von Hermann Claudius bestätigt seine Ambivalenz: Es ist zugleich Ausdruck eines Lebensgefühls und Projektionsfläche für Ideologie. (Brecht, Bertolt: Zu „Leben des Galilei“. In: Gesammelte Werke. Band VII. Schriften I. Zum Theater. Frankfurt a.M. 1967. S. 1103f)

Ein Wanderlied

Während oder nach einer Heidefahrt mit einer internationalen Jugendgruppe („Falken“ oder „Wanderfalken“) im Sommer 1913 dichtet Hermann Claudius das Wanderlied „Wann wir schreiten Seit‘ an Seit'“. Durch die Begegnung mit einer jungen Österreicherin motiviert, war es ursprünglich als Liebeslied mit der Anfangsstrophe „Mann und Weib“ gedacht.

Im August 1913 schreibt Claudius, dass er sich ein Volkslied für seine Zeit erhofft, da ein starker demokratischer Zug das öffentliche Leben durchwehe. (In: Mitteilungen aus dem Quickborn. 6.J. Nr. 4. August 1913. S. 172)  Aus dem Liebeslied eines Wanderers wird unversehens ein politisches Arbeiterlied. Der Vers „Mit uns zieht die neue Zeit“ könnte sich an der Wochenschrift der SPD, „Die Neue Zeit“, orientiert haben, die seit 1883 erscheint.

In der Monatsbeilage des Hamburger Echo, „Die arbeitende Jugend“, wird der Text im Juni 1914 erstmals veröffentlicht.



In der Monatsbeilage des Hamburger Echo, „Die arbeitende Jugend“, wird der Text im Juni 1914 erstmals veröffentlicht.

Der Komponist Michael Englert nennt in einem Brief vom 24.3.1953 an Wilhelm Katthage als erste öffentliche Aufführung eine Protestkundgebung der SPD gegen die Fortsetzung des Krieges im Frühjahr 1915. Eine andere Quelle bestimmt die Gründungsversammlung der „Freie Jugend Hamburg-Altona“ im März 1916 als Ort der Uraufführung. Diese Gruppierung hatte sich gebildet, nachdem die SPD ihren Jugendbund nach Protesten gegen den Krieg und gegen eine militärische Erziehung der Jugend aufgelöst hatte. Geleitet vom Komponisten Englert führt der „Hamburger Arbeiterjugendchor“ das schon bekannte Lied auf (vgl. Lammel, Inge: Arbeitermusikkultur in Deutschland 1844-1945. Bilder und Dokumente. Leipzig 1984: VEB Dt. Verlag für Musik. S.58-59, 126, 127). Claudius selbst nennt irrigerweise im Vorwort zu „Vörsmack“ das Jahr 1916 als Entstehungszeit des Liedes, meint wahrscheinlich jedoch die Melodie. Im Übrigen wurde dieses Vorwort mit allen Daten von Paul Wriede verfasst.

1920 erscheint das „Hamburger Liederblatt I für dreistimmigen gemischten Jugendchor“, herausgegeben vom Arbeiterjugendbund Groß-Hamburg. Es beginnt mit dem Lied „Wann wir schreiten“. In veränderter und erweiterter Form erreicht es bis 1929 eine Auflage von 500Tausend.

Ein Lied der sozialistischen Jugend

Den endgültigen Durchbruch zum Pop-Song der 20er schafft das Lied auf dem ersten Reichsjugendtag der Arbeiterjugend. Vom 28. bis 30. August 1920 treffen sich ca. 2000 Jugendliche aus ganz Deutschland (bis auf Bayern). Das Treffen, das zwei Jahre später zur Gründung der „Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ)“ führt, beschwört pathetisch den „Geist von Weimar“ und stellt sich ostentativ in die Bildungstradition eines Goethe und Schiller

Verantwortlich für den Weimar-Mythos ist vor allem das sogenannte ‚Weimar-Buch’, ein unmittelbar nach dem Treffen von dem Mitveranstalter Emil Reinhard Müller herausgegebener Bericht, der in Sprache und Diktion den ‚Geist von Weimar‘ hymnisch feiert: „In aller Herzen, die dabei waren, heiligen” die Tage in Weimar nach „wie ein Märchen, und waren doch Wirklichkeit” (Müller, 5).

(Müller, E.R. Das Weimar der arbeitenden Jugend. Niederschriften und Bilder vom ersten Reichjugendtag der Arbeiterjugend vom 28.-30. August 1920 in Weimar. Berlin 1920)

Eine sofort nach dem Treffen einsetzende pathetische, mythische Aufladung des Treffens macht es zu einem bahnbrechenden, epochalen Ereignis, zu einem ‚Woodstock‘ der Arbeiterjugend. Jugendliche haben „Blumen im Haar, Lieder auf den Lippen” (Müller, 5) und tanzen zu „den rhythmischen Klängen einer Fiedel” (Müller, 96). Im „natürlichen Tanz aus Freude und Lust” (Müller, 95) demonstrieren sie „so viel Frohheit, Glück und Reinheit”, denn ihre „Kultur gedeiht nur in vollster Freiheit” (Müller, 48).


Statt revolutionärem Klassenkampf feiert die neue sozialistische Jugend Partys im Stil der Wanderjugend. Der junge Mann links im weißen Hemd ist der spätere SAJ-Vorsitzende Max Westphal.
For those who come to Weimar be sure to wear some flowers in your hair.

Eine Postkarte zum Event postet die Botschaft: Ich war dabei!

Die Karte nach Hamburg-Wandsbek schwärmt vom Festival mit gesamtdeutscher Jugend:

„Weimar, 28.8.20
Bin gesund und munter
nach langer Fahrt hier gelandet.
Welch Dialekte und welch
Massen. Werde dann in der
nächsten Woche weiterfahren.
Eine herrliche Gegend. Es grüßt
Louis Garben  Hans Lüttermann
            Albert Lobermann“

Fotos und Postkarte mit freundlicher Genehmigung des Archivs der Arbeiterjugendbewegung, Oer-Erkenschwick

Dafür dass „der Rhythmus eines großen Erlebens” durch die Menschen „bebt” (Müller, 7), sorgt vor allem ein Lied, das von Weimar aus eine steile und erstaunliche Karriere angetreten hat. Es ist das von Michael Englert vertonte Gedicht von Hermann Claudius mit dem Anfangsvers „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’”, das als das „Lied von Weimar” (Müller, 72) die mediale Basis für das beschworene Gemeinschaftsgefühl bildet: „Es röten sich schon die Hügel, es glühen die Wipfel. Wir schreiten ins heilige Land der Freude und der Freiheit hinein.” (Müller, 9)

Der Reichsjugendtag in Weimar war die „Geburtsstunde der SAJ” (Schley, 44) und führte zu einer „gewaltigen organisatorischen Expansion der sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ)” (Lorenz). Schon nach einem Jahr verdoppelte sich ihre Mitgliederzahl auf 75.000.

In der Zeitschrift „Arbeiter-Jugend“ (Berlin) lassen sich zahlreiche Hinweise auf das Lied und seine Bedeutung für die sozialistische Jugendbewegung finden.

„Wer diesen Jugendzug gesehen hat, wer ihn mit offenen, unverblendeten Augen ansah, der weiß seitdem auch, mit wieviel Recht das von der Arbeiterjugend am meisten gesungene Lied den Kehrreim enthält: ‚Mit uns zieht die neue Zeit …‘ Hier wächst in der Tat eine neue Zeit herauf, ein Geschlecht von Menschen, das uns hoffen läßt: Alle Nöte der Zeit werden überwunden, wenn wir nur fest an diese Jugend glauben, ihr Wachstum fördern und keine Mühe scheuen, die es für dieses Wachtum aufzuwenden gilt. Was für ein prächtiger Schlag von Menschen!“

(Arbeiterjugend September 1923, S. 152, vgl. 1920 12.J S. 62, 194, 209, 249, 251, 262, 263. 1921 13.J S. 167, 415. 1922 14.J S. 180, 287. 1923 15.J S. 152. 1929 20.J S. 126, 152, 153)

So wird hier auch deutlich, dass die vierte Strophe emanzipatorisch verstanden wurde – ein Grund, weshalb sie in der nationalsozialistischen Rezeption gestrichen wurde.

„In unseren Reihen stehen sich die Geschlechter nicht mehr gegenüber als Gegensätze: hier Herr, hier Knecht, sondern sie fühlen sich als eine höhere Einheit. In unseren Reihen schon wird wahr, was der Dichter Hermann Claudius in die tiefsinnigen Worte faßt: ‚Mann und Weib und Weib und Mann/ Sind nicht Wasser mehr und Feuer./ Um die Leiber legt ein neuer/ Frieden sich, wir blicken freier, / Mann und Weib, uns fürder an’“.

(Paul Schirrmeister: Die Emanzipation der Frau und die Aufgabe der proletarischen Jugendbewegung. Arbeiter-Jugend, Juni 1922, S. 180)

Ab 1920 begleitet das Lied nicht nur die wandernde Jugend, sondern ebenso die religiösen Riten der Sozialisten und wird Bestandteil der Sonnenwendfeier.

(vgl. Thieme, Alfred: Sonnenwendfeier der Hamburger Arbeiterjugend. In: Hamburger Echo Nr.287/A vom 23.6.1920)

Gegen Ende der 20er Jahre müssen schon Eigentumsrechte auf das Lied eingeklagt werden, da die neue Zeit von allen möglichen Gruppen für sich reklamiert wurde.

Zum Reichjugendtag in Dortmund 1928:

„’Mit uns zieht die neue Zeit‘. – Unser Bekenntnis- und Verkündigungslied hat vor acht Jahren von Weimar an seinen Siegeslauf durch unsere Bewegung angetreten. Auch die bürgerliche Jugend hat diese Lied übernommen, und es ist fast zum Hauptlied der deutschen Jugendbewegung geworden. Wenn wir es in Dortmund aus unseren Reihen wieder und wieder erschallen lassen, soll das bedeuten, daß, wer sich zur ’neuen Zeit‘ bekennt, sich zum Sozialismus bekennen muß.“

(Arbeiterjugend Juli 1928. S. 153)

Der CVJM argumentiert gegen die Popularität des ’sozialistischen‘ Liedes auch in seinen Reihen. Die Arbeiterjugend zitiert den CVJM:

„Das arg mißhandelte Lied ‚Wir!‘ (Wann wir schreiten Seit‘ an Seite) wird in unseren Reihen verpönt und verboten. Jungens! Wehrt euch gegen jede Geschmacksverirrung, auch im Liede! Das Trutzlied antichristlicher Verbände komme nicht auf unsere Lippen! Darum: ‚Weg damit!’“

(Arbeiterjugend Juni 1926. S. 126)


Zur neuen Zeit! Wann wir schreiten –
Linolschnitt von Fritz Behnke.
In: Hamburger Echo.
Die Neue Welt. Nr.4 S.15
vom 19.02.1921


„Seit an Seit“. Volksliederbuch für die
dt. Jugend. Ausgabe des Jugend-Bundes
im Gewerkschaftsbunde der Angestellten.
Jena 19242: Eugen Diederichs



Das Lied ist schon soweit etabliert,
dass ein Hinweis auf den Autor
Hermann Claudius und sein Lied
unnötig erscheint.


„Wann wir schreiten Seit an Seit“.
Sammlung von Aufsätzen über Wandern und Jugendherbergen.
Hilchenbach: Reichsverband
für deutsche Jugendherbergen 1931/32

„Hamburger Jugendlieder“ Hrsg. Max Laudan. Hamburg 1924

„Selten ist ein Lied so schnell Gemeingut der gesamten Jugend geworden, wie dieses. Unser Hamburger Dichter Herm. Claudius schribe die schönen Worte.“

Die Anweisung zum Gesangsstil lautet „Markig“.

Ein Kampflied der Nationalsozialisten

In den 30er-Jahren gerät Claudius‘ Lied in den Sog des Nationalsozialismus‘. Eine weitere Metamorphose steht bevor. Das harmlose Dokument eines Flirts verwandelt sich zunächst in die Hymne einer sozialistischen Jugend, bevor es die Nazis besetzen und für ihre Zwecken entfremden. „Wann wir schreiten“ erleidet so das gleiche Schicksal wie zahlreiche andere Lieder der Jugend- und Wanderbewegung. Die Nazis werben mit bekannten Liedern um die Jugend und deuten sie in ihrem Sinne. Ihre Liederbücher sehen aus wie all die anderen Hefte für die „wanderfrohe Jugend“. Erst eine genaue Lektüre offenbart Überraschendes.

Der Claudius-Text wird auf zwei oder drei Strophen verkürzt, vor allem fällt die emanzipatorische fünfte Strophe weg. Neue, ideologisch eindeutige Strophen, kommen hinzu.

„3. Hakenkreuz und Schwarzweißrot laßt voran im Winde wehen, bis wir alle wieder sehen Deutschland blühend auferstehen in der Freiheit Morgenrot.
4. Unsre Herzen sind aus Stahl, unser Wille ist aus Eisen, wenn der Welt den Mann wir weisen, den wir als den Führer preisen aus der Knechtschaft Not und Qual.
5. Hitler führt uns heldengleich unter sieggewohnten Fahnen, Kampfbereit wie unsre Ahnen wandeln wir auf kühnen Bahnen. Mit uns zieht das dritte Reich!“

Aus dem Aufbruch in eine neue Zeit, die Claudius beschwört, ist zwanzig Jahre später das Dritte Reich geworden. So ist es keine Problem, dass eine ehemals linke Hymne im Liederbuch direkt neben dem Horst-Wessel-Lied abgedruckt werden kann. Immerhin gibt es den freundlichen Hinweis, dass Hermann Claudius der Autor der ersten beiden Strophen ist.

Templin, Karl (Hg.): Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘. Köslin i. Pom. 1933. Das Motto dieses Liederheftes lautet: „Trotziger Stolz und heiliger Glaube sind die Lieder eines hoffenden Volkes. Adolf Hitler.“

Ein katholischer Kampf

Auch andere Gruppierungen okkupieren Claudius‘ Lied für ihre Zwecke. So gibt es eine christliche Variante des Kampfes, für den man schreitet, vorsichtshalber mit einer neuen Melodie versehen, um durchaus mögliche Verwechselungen zu vermeiden. Das Liederbuch der katholischen Kaufmannsjugend Blaue Fahnen schenkt dem Gedicht eine weitere Strophe:

Heilgem Kampf sind wir geweiht,
Gott verbrennt in Zornesfeuern
eine Welt, sie zu erneuern,
wollen kraftvoll wir beteuern!
Christus, Herr der neuen Zeit,
Christus, Herr der neuen Zeit.

Re-entry als Hit der Wanderer und Sozialisten

An dem Lied geht seine Nazi-kontaminierte Epoche schadlos vorbei. Aufgrund seiner sozialistischen Jugend ist es rasch entnazifiziert, nicht aber der Autor. Bis heute klebt das Nazi-Etikett auf Hermann Claudius. Zwar ist er für sein Image nicht ganz unschuldig, aber dafür dass die Nationalsozialisten seine Texte hemmungslos ideologisch ausschlachten, wird nach dem Krieg der Autor selbst verantwortlich gemacht. Plötzlich rückt das Lied wieder näher an den Dichter, obwohl es sich doch schon lange emanzipiert hatte.

Wann wir schreiten in der DDR

Analog zur politischen Lage erlangt unser Lied ein deutsch-deutsches Schicksal. In der DDR erhält es seinen ehemaligen Status als sozialistisches Kampflied zurück. Es steht wiederum für die üblichen sozialistischen Werte: Aufbruch, Fortschritt, Kampf, Jugend, Gemeinschaft. Wie die jugendlichen Wandervögel 1914, die SAJ 1924, die HJ 1934, so singt die FDJ 1954 „Wann wir schreiten Seit‘ an Seit'“.

Obwohl Claudius zu den Literaten zähle, die „in ihrer politischen Haltung nicht konsequent die Interessen des revolutionären Proletariats vertreten haben“ (S. 103), wird er in das Lexikon sozialistischer Literatur, herausgegeben 1963 vom VEB Verlag Sprache und Literatur, aufgenommen. Die Reihe Lieder im Kampf geboren nimmt die beiden Gedichte Wir sind jung, die Welt offen und Wann wir schreiten auf.  

Dass dieses Lied den Sound der frühen DDR symbolisiert, sieht man vielleicht darin, dass die Melodie zur Zeile „mit uns zieht die neue Zeit“ als Pausenzeichen im Rundfunk dient: Selbst eine Pause hat die Utopie der neuen Zeit im Ohr.

Im Schulbuch für den Musikunterricht in den Klassen 7 und 8 wird das Lied in das Kapitel „Lieder als Waffe im internationalen Kampf der Arbeiterklasse“ einsortiert. Man spart sich die vierte und fünfte Strophe. Das Wandern sowie die Liebe gleichberechtigter Geschlechter tragen nur wenig zum Klassenkampf bei.

Die Schüler erhalten korrekte Angaben zur Entstehung des Liedes. Sie sollen sehen, wie sich die „Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik“ in Jugendliedern widerspiegelt. Didaktisch anschaulich erfahren die Schüler im gemeinsamen Singen „den jugendlichen Schwung beim Aufbau der Arbeiter-und-Bauern-Macht“ (Musik. Lehrbuch für die Klassen 7 und 8. Berlin 1973. S. 90).

Der staatseigene Musikverlag ‚Eterna‘ unterstützt den realen Sozialismus durch zahlreiche Schallplatten, die zur Stabilisierung der richtigen Haltung beitragen. Die Frage eines Westdeutschen mag erlaubt sein: Wer hat sich sowas angehört?

Berliner Gesangsverein „Typographia“, 1927/28

Kammerchor der Gerhart-Hauptmann-Oberschule Wernigerode, 1973

Beide Versionen beschränken sich auf die Strophen eins bis drei. Nur die sind relevant für die Weltrevolution oder die sozialistische Arbeiter- und Bauern-Romantik (Hammerschlag Saatengrün). Die Strophen vier und fünf mit ihren singenden Wanderern und gleichberechtigten Liebespaaren tragen offenbar nicht viel zur Kampfesmoral bei.

Wann wir schreiten in der BRD

In Westdeutschland findet das Lied nach dem Krieg rasch wieder seinen Ort in Liederbüchern für Wanderer, wird aber auch von der SPD rehabilitiert. Bis heute endet jeder Parteitag, indem alle Genossen Claudius‘ Lied intonieren.

1960 beginnt die neue Zeit jedoch nicht nach dem Parteitag, sondern schon mit ihm. Der Parteitag in Hannover beginnt mit dem Lied.
(In: Ruhr-Nachrichten vom 26./27.11.1960)

Zwischen 1998 und 2003 pausierten die singenden Sozialdemokraten: Sie schritten nicht mehr, sondern regierten. Auf dem Parteitag in Bochum erinnerten sie sich aber wieder ihrer Tradition, jedoch mit textlichen Schwierigkeiten, wenn sich die Zeit in einen Geist verwandelt.

„Der Parteitag von Bochum ist der erste seit Jahren, der wieder mit einem gemeinsam gesungenen Lied beschlossen wurde. 'Wann wir schreiten Seit' an Seit'' heißt das Arbeiterlied, das Hermann Claudius 1915 dichtete. 'Wann wir schreiten Seit' an Seit' und die alten Lieder singen, und die Wälder widerklingen, fühlen wir, es muss gelingen', heißt es darin. 'Mit uns zieht ein neuer Geist, mit uns zieht ein neuer Geist'. Ein Lied kann eine Krücke sein, hat wohl jemand im Willy Brandt-Haus gedacht und sich an die alte Tradition des gemeinschaftlichen Singens erinnert. Vielleicht hilft's ja der Partei, sich in diesen schweren Zeiten zu orientieren und zur Einheit zu finden, die Querelen hinten anzustellen und Solidarität zu üben.“ (Yassin Musharbash, Spiegel 19.11.2003)

Hier die Band Singende Sozis mit ihrem größten Hit, live in Berlin 2011:

Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel (M), der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Frank-Walter Steinmeier (l) und SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles (r) singen am Dienstag (06.12.11) auf dem Bundesparteitag der SPD in Berlin gemeinsam zum Abschluss das Lied „Wann wir schreiten Seit‘ an Seit'“. Unter dem Slogan „Unser Kapital: Demokratie und Gerechtigkeit“ berieten die Delegierten der Sozialdemokraten drei Tage lang über die Ausrichtung der Partei vor den Bundestagswahlen 2013. Foto: Sebastian Kahnert dpa/lbn +++(c) dpa – Bildfunk+++

Einige Sozialdemokraten haben das Lied in ihr Herz geschlossen. Heinz Kühn, der ehemalige Ministerpräsident von NRW, hat sich zu seiner Trauerfeier 1992 Wann wir schreiten gewünscht. Für den Großen Zapfenstreich zur Verabschiedung des Verteidigungsministers wünscht sich Peter Struck im Jahr 2005 ebenso Claudius‘ Lied.

Einige Jusos können dieser Herzensangelegenheit nicht folgen. Auf dem Juso-Bundeskongress vom 30.11. bis 2.12.2018 reicht die Gruppierung „Hessen-Nord“ einen Antrag ein:

„Das Lied ‚Wir schreiten Seit an Seit‘ von Hermann Claudius wird bei keiner unserer Veranstaltungen mehr gesungen. Es wird nach einer Alternative gesucht.“

Der Antrag wird nicht etwa – was man vielleicht noch verstehen könnte – mit der obsoleten Sprache und Haltung des über 100 Jahre alten Liedes begründet, sondern die nord-hessischen Jungsozialisten haben den Autor des Liedes als Nazi entlarvt. Den Antrag im Wortlaut nebst einigen richtigstellenden Kommentaren finden Sie am Ende dieser Seite. Aber sogar das „SPD-Geschichtsforum“ lässt sich von dieser windigen und haltlosen Argumentation überzeugen. Man hätte gehofft, dass ein Geschichtsforum sich an historische Fakten hält, rät aber zu einem verzweifelten Schritt im Bedürfnis einer Modernisierung:

Der „Vorwärts“ berichtet im Dezember 2021 knapp von dem Beschluss der Parteispitze, das Lied „Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘“ nicht mehr am Ende eines Parteitages zu singen. Ziemlich geräuschlos geht damit eine über 60 Jahre gepflegte SPD-Tradition zuende.

Im Herbst 1989 veranstaltet die Stadt Duisburg ein Festival zu „Arbeiteralltag, Arbeiterbewegung, Arbeiterkultur“. Zwischen September und November gibt es Ausstellungen, Vorträge, Symposien, Filme, Konzerte, Theater, Exkursionen. Claudius‘ Lied ist dabei titelgebend, spielt aber auch inhaltlich eine Rolle. Am 2.9. liest Gisela Claudius „aus den Werken des Dichters Hermann Claudius“, mit musikalischer Gestaltung. Die Duisburger Naturfreunde laden unter dem Titel „Mit uns zieht die neue Zeit“ am 10.9. zu einer Wanderung durch den Duisburger Wald ein (kostenfrei)

Das linke Merchandising überlebt auch die DDR und setzt sich im wiedervereinten Deutschland fort. So wird 2004 eine CD mit Darbietungen von FDJ-Jugendfestivals der 60er bis 80er Jahre herausgegeben. Wann wir schreiten Seit an Seit gibt der CD ihren Titel. Dabei sind natürlich die üblichen Verdächtigen aus dem sozialisitischen Liedgut (z.B. Brüder zur Sonne, Der Rote Wedding, Thälmann-Kolonne, We shall overcome und selbstverständlich Die Internationale). 

Mit einem wohl witzig gemeinten Titel aus der Wortspielhölle muss das Lied herhalten, um ein Beispiel für die permanente Streitkultur unter Sozialisten zu kommentieren. Am 25.5.2013 berichtet die Südeutsche Zeitung von einen Disput zwischen der SPD und der Sozialistischen Internationale.

Auch die Bundeswehr schreitet Seit‘ an Seit‘. Mit dem Lied beginnt das Kapitel „Fahrtenlieder“ im „Liederbuch der Bundeswehr“ bis 1991. Die Lieder seien „während der Zeit des 3. Reiches wenig gesungen“ und damit für eine demokratische Armee legitmiert. Dennoch verwendet auch die Bundeswehr die von den Nazis favorisierte Vertonung von Armin Knab, nach der man besser marschieren kann, und streicht die fünfte, emanzipatorische Strophe.

wirbeltiere

Am 25.1.2009 erklärt die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Claudius Vers zur Formel der Menschwerdung: Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘  meint nämlich den evolutionären Sprung zum aufrechten Gang.

Die Band Egolog aus Magdeburg veröffentlicht 2014 eine eigene Version des Liedes auf ihrer Platte „Hammerschlag“. Bandmitglied Tom schreibt uns dazu: 

"Wir haben das Lied 2014 im Rahmen einer kleinen Veröffentlichung mit neu interpretierten Arbeiter- und Protestliedern aufgenommen und dazu ein Video gedreht. Motivation war, einen Beitrag dazu zu leisten, dass solches Liedgut weitergetragen und auch zeitgemäß weiterentwickelt wird. Ich selbst bin Sozialdemokrat und komme daher regelmäßig mit dem Lied in Kontakt, wenn wir es zum Abschluss eines jeden Parteitages singen. Irgendwann kam dann auch das Interesse für andere Lieder und das Genre im Allgemeinen. Die Mitstreiter in der Band teilten damals glücklicherweise das Interesse und so kam es zu den Aufnahmen."
Egolog auf Youtube

Was ist nur aus der SPD geworden?!

Die Älteren werden sich erinnern: Die SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) war mal eine linke Partei für Arbeiter und Intellektuelle, eine politische Partei, die eine Heimat für kluge Köpfe bot. Hier konnte man debattieren: argumentativ, begründet, akademisch substanziell, theoriegesichert.

Arme SPD! Mittlerweile basieren ihre Anträge auf Halbwissen, auf kolportiere Vorurteile sowie einer Meinung, die den Zeitgeist auf ihrer Seite wähnt.

Schade, dass auch die Tradition, auf die die SPD nach wie vor setzt, in diesem Sog versinkt. Denn aufgrund dieses eklatant fehlerhaften Antrags beschießt die Parteispitze im Dezember 2021, das Lied zum Abschluss des Parteitages nicht mehr zu singen. Das SPD-Geschichtsforum empfiehlt, das Lied „am Ende des Parteitags nicht zu singen, und zwar so lange, bis ein Lied gefunden werden kann, das keine problematisch Vorgeschichte besitzt und das außerdem das heutige Lebensgefühl von Sozialdemokrat*innen und die Grundhaltung der SPD im 21. Jahrhundert trifft.“ (https://www.vorwaerts.de/artikel/parteitag-spd-schreiten-mehr-singt)

Dokument der Jusos
2018
https://juso-buko.de/cvtx_antrag/wir-schreiten-nicht-seit-an-seit-mit-nazis/
Kommentare:
Richtigstellungen und Hinweise auf Kontexte
Antragstool der Juso-Bundeskongresse
X7 Für eine historisch-kritische Auseinandersetzung mit dem Erbe der Arbeiter*innenbewegung in der SPD Status: (noch) nicht behandelt Veranstaltung: Juso-Bundeskongress 30. November – 2. Dezember 2018 Antrag AntragstellerInnen: Hessen-Nord Der Bundeskongress möge beschließen: Das Lied “Wir schreiten Seit an Seit“ von Hermann Claudius wird bei keiner unserer Veranstaltungen mehr gesungen. Es wird nach einer Alternative gesucht. Begründung:







Der Anfangsvers des Gedichts lautet richtig: „Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘“


Hermann Claudius war unter anderem als freier Schriftsteller tätig und erlangte hierüber Bekanntschaft. Seine frühen Werke sind der Arbeiter*innendichtung zuzurechnen.„unter anderem“: Claudius war dreißig Jahre Grundschullehrer und wurde nach einem Motorradunfall (zwangs-)pensioniert. Die Tätigkeit als freier Schriftsteller war dann die einzige Einnahmequelle für die Familie mit vier Töchtern.
Während des Ersten Weltkriegs schrieb er kriegsbegeisterte, nationalistische Gedichte.Der 1914 erschienene Gedichtband „Hörst du nicht den Eisenschritt“ enthält tatsächlich Gedichte, die man nationalistisch deuten kann. Claudius folgt hier einem Zeitgeist wie viele andere Schriftsteller, gerade im expressionistischen Milieu. Nach seinem eigenen Kriegseinsatz legte er 1916 den Band „Menschen“ vor, dessen Veröffentlichung zunächst von der Zensurbehörde untersagt wurde, weil er kriegs-kritische Texte enthalte. In allegorischen Geschichten wendet sich Claudius klar gegen den Krieg. Es schreibt z.B. „Und das Töten wuchs tausendfältig und nannte sich Krieg. Und die Menschen wateten im Blut und vergaßen ihrer selbst und Gottes.“ (S. 10) Auszug aus einem Schreiben des Generalkommandos an die Oberschulbehörde Hamburg vom 25.4.1917 zum Verbot des Buches „Menschen“. „Das Verbot ist erlassen worden, weil das Buch nicht nur eine gerechte Würdigung der sittlichen Werte, die der uns aufgezwungene Verteidigungskrieg an Opfermut und Opferbereitschaft geschaffen hat, vollständig vermissen läßt, sondern namentlich auch in seinen Betrachtungen über das Wesen des Krieges letzteres in so entstellender Weise darstellt, daß seine Verbreitung im allgemeinen Interesse nicht geduldet werden kann.“ Eine drohende Entlassung Claudius‘ aus dem Lehrerberuf konnte gerade noch durch das Gutachten seines Direktors verhindert werden.
In der Weimarer Republik engagierte er sich zunächst in der Jugendarbeit der SPD und in den sozialdemokratisch geführten Gewerkschaften, schrieb sozialdemokratische Lieder und Stücke.Zu Beginn der Weimarer Republik war Claudius 40 Jahre alt. Seine Beteiligung an der sozialistischen Jugendbewegung lag da schon einige Jahre zurück. Claudius schrieb nie „sozialdemokratische Lieder und Stücke“. Er selbst bezeichnet sich als äußerst unpolitischen Autor, war aber SPD-Mitglied.
Seine politische Haltung wandelte sich im weiteren Verlauf jedoch grundlegend zum Nationalismus.Claudius war nie Nationalist im hier offenbar gemeinten Sinne. Im Gegenteil: Sein Hochwertbegriff „Deutschland“ hat eine Werte- und Sprachbasis und ist international ausgerichtet. Claudius ist über die NS-Zeit hinaus SPD-Mitglied geblieben.
Claudius veröffentlichte im völkischen Verlag Albert Langen-Georg Müller.Nach zahlreichen Veröffentlichungen in anderen Verlagen begann die Verbindung mit Langen-Müller im Jahr 1935 mit dem Gedichtband „Daß Dein Herz fest sei“. Nach den Eingriffen in das Verlagswesen durch die nationalsozialistische Kulturpolitik war Langen-Müller einer der wenigen erlaubten Verlage, mit denen Autoren Geld verdienen konnten. Der „völkische(n)“ Verlag ediert auch Autoren außerhalb des völkischen Kontextes, z.B. Ernst Wiechert, der dem Widerstand zugeordnet wird.
Er wurde Mitglied in der nationalsozialistisch ausgerichteten, von Börries Freiherr von Münchhausen seit Beginn der 1930er Jahre betriebenen und gegen die Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste gegründeten Deutschen Dichterakademie. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialist*innen und ihrer deutschnationalen Bündnispartner* innen wurden die liberalen, linken und jüdischen Mitglieder der Sektion Dichtkunst in der Preußischen Akademie der Künste, wie z.B. Heinrich und Thomas Mann, Käthe Kollwitz, Leonhard Frank oder Ricarda Huch, zum Austritt gezwungen. Zu den Neumitgliedern, die an ihre Stelle traten, gehörte unter anderem Hermann Claudius.Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft wurde die Preußische Akademie der Künste faktisch aufgelöst und durch die „Deutsche Akademie der Dichtung“ ersetzt. Claudius wurde in diese neue Akademie berufen. Er empfand diese offizielle Nobilitierung nicht nur als Ehrung, sondern vor allem als Bedingung, als bekannter Schriftsteller seine Werke zu verkaufen und davon leben zu können. Die politischen Hintergründe hat er tatsächlich nicht reflektiert.
Er war einer der 88 deutschen Schriftsteller*innen, die 1933 das Gelöbnis treuester Gefolgschaft für Adolf Hitler unterzeichneten.Das ist umstritten. Es gibt nur ein Dokument, worauf sich diese Zuordnung bezieht: Eine kurze Zeitungsmeldung im Oktober 1933, die eine Reihe von Fehlern enthält. „Das Schriftstück ist kaum sehr glaubwürdig“ (Wulf, Joseph. Kultur im Dritten Reich. Bd.2. Frankfurt/M. 1989. S. 112). Claudius selbst hat seine Unterschrift nie bestätigt, aber auch nicht bestritten.
Hermann Claudius war Vorstandsmitglied des 1936 gegründeten Eutiner Dichterkreises, einer der bekanntesten Autorengruppen im nationalsozialistischen Deutschland.Im Eutiner Dichterkreis versammelten sich in der Tat Autoren, die zum Nationalsozialismus tendierten. Die vorgetragenen Texte selbst sind der Heimatliteratur zuzuordnen, z.T. in Niederdeutsch – das Feld, in dem sich auch Claudius literarisch bewegte.
Er nahm 1934 außerdem an den „Lippoldsberger Dichtertagen“ konservativer, völkischer und nationalsozialistischer Autor*innen Teil.Seit den gemeinsamen Erlebnissen im Schützengraben des 1. Weltkrieges verband Hans Grimm und Hermann Claudius eine lebenslange Freundschaft, die auch deutliche politische Kontroversen aushielt. In gegenseitigen Briefen wird die sehr unterschiedliche Einschätzung der Nazi offen ausgetragen. Claudius teilte Grimms Begeisterung nicht.
Seine Veröffentlichungen im Nationalsozialismus bewegten sich zwischen pathetischer Frömmigkeit und klarer literarischer Unterstützung des NS-Regimes, so zum Beispiel in einem Gebet für Adolf Hitler, welches 1940 unter dem Titel Deutschland: „Herrgott steh dem Führer bei,/Daß sein Werk das deine sei“ erschien.Pathetische Frömmigkeit trifft die Grundhaltung Claudius‘. Sein Glaube stand immer im Vordergrund, seine Weltsicht und Einstellung resultieren aus dieser Quelle. Leider folgen die Jusos auch hier einem immer wieder kolportiertem Vorurteil, einer Missdeutung des sog. Führergedichts. Dabei denken sie ihrer selbst gelegte Linie nicht zuende: die Beurteilung des politischen „Führers“ aus der Perspektive des frommen Christen. Eine ausführliche Argumentation gegen dieses Missverständnis finden Sie hier: Katthage, Gerd: Beten für den Führer. Hermann Claudius und der Nationalsozialismus. Kontextualisierung eines umstrittenen Textes. In: Wirkendes Wort 2/2018
Seine Texte erschienen aufgrund ihres propagandistischen Werts in der Krakauer Zeitung, dem führenden NS-Organ, hier war Claudius mit mehr als 50 Texten vertreten.Eine Zeitung für die deutschen Soldaten im besetzten Polen, 1939 gegründet. Vermutlich haben alle Texte in solch einem Organ in irgendeiner Weise propagandistischen Wert – alles andere wäre überraschend. Auch Texte von Claudius wurden dafür benutzt.
Nach dem Ende des Nationalsozialismus beteiligte sich Claudius erneut an den von Hans Grimm 1949 wiederbegründeten Lippoldsberger Schriftsteller*innentreffen. Mit dabei waren vor allem NS-belastete Autor*innen wie Wilhelm Pleyer oder Will Vesper, „die den Nationalsozialismus im Rückblick rechtfertigen“ wollten.Ja, Claudius kannte auch Schriftstellerkollegen, die von „klarer literarischer Unterstützung des NS-Regimes“ geprägt waren. Offenbar diskreditieren diese Bekanntschaften sein literarisches Schreiben. Man kann ihm diesen Vorwurf machen: Er hatte die falschen Freunde.
Hermann Claudius wird von der seriösen Literaturkritik und Literaturwissenschaft, außer im Kontext von „Literatur im Nationalsozialismus“, nicht weiter rezipiert. Alte und neue Texte fanden kaum mehr Verleger,Hermann Claudius hat zwischen 1946 und 1974 27 Bücher in verschiedenen Verlagen veröffentlicht, auch renommierten, wie z.B. Mohn/Bertelsmann, mit z.T. hohen Auflagen, z.B. über 60.000 verkauften Exemplaren des Bandes „Das Wolkenbüchlein“.
positiv gewürdigt wurde er nach 1945 jedoch weiterhin regelmäßig von rechtsradikalen Medien und Autor*innen, im rechtsextremistischen Milieu findet er noch heute Beachtung.„Positiv gewürdigt“ wurde er z.B. auch von führenden Sozialdemokraten, etwa in Briefen von Willy Brandt und Helmut Schmidt zum 90., 95. und 100. Geburtstag (liebe Jusos: bitte bei Wikipedia nachlesen, wer das war). Brandt schreibt 1973: „Ihr umfangreiches dichterisches Werk gehört zum besten literarischen Besitz unseres Volkes. Der Arbeiterjugend hat Ihr Schaffen viele geistige Impulse gegeben.“
Hermann Claudius ist Schöpfer des Liedes „Wann wir schreiten Seit an Seit“. Dieser kurze biographische Umriss zeigt beispielhaft seine Verflochtenheit mit dem Nationalsozialismus. Als Teil der Arbeiter*innenbewegung ist es nicht nur unsere Aufgabe, diese zu bewahren, sondern sich mit ihrem Erbe im historischen Kontext kritisch auseinanderzusetzen und Mitglieder unserer Partei entsprechend zu sensibilisieren.Sorry: kurz, Umriss und beispielhaft reicht leider nicht aus, um zu dem Urteil der „Verflochtenheit mit dem Nationalsozialismus“ zu kommen.
Auch sensibilisieren ist zu wenig. Eine solches Problem lässt sich nicht auf der Ebene des Empfindens und Fühlens bewältigen. Man muss auch schon mal denken, begründen und argumentieren.
Als internationalistischer und antifaschistischer Verband und Partei ist es unsere Verpflichtung, uns mit den Berührungspunkten des Nationalsozialismus mit der Arbeiterbewegung zu auseinanderzusetzen und zur Aufklärung unserer Mitglieder beizutragen um einen aufgeklärten Umgang mit unserer Geschichte zu pflegen und bei Notwendigkeit Konsequenzen für unser Handeln abzuleiten.Ja bitte: Aufklärung – als Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit.
Die Entscheidung fällt unter anderem auf Grundlage folgender Quellen:„unter anderem“: Welche Quellen werden denn aus welchen Gründen nicht genannt?
Ernst Klee, Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2007.Das Lexikon widmet Claudius eine Spalte. Der kurze Artikel enthält eine Reihe z.T. haarsträubender Fehler. Angaben und Zitate erscheinen kontextlos und selektiv, wohl von der Absicht geleitet, Claudius als Nazi zu entlarven, so die Anfangsverse des sog. Führergedichts, die zudem aus einer abseitigen Quelle und nicht aus dem Werk Claudius‘ oder der Erstveröffentlichung zitiert werden. Bergengruens persönliche Abneigung gegen Claudius dient hier als einziges literarisches Urteil. Klee nennt einen falschen Geburtstag (Stuhlmann schreibt hier wohl ab). Claudius ist nicht der „Enkel des Dichters Matthias Claudius“, sondern dessen Urenkel. Der Hamburger Lessingpreis wird als „NS-Ehrung“ bezeichnet. Immerhin zitiert der Artikel auch Willy Brandt, allerdings falsch. Statt „Ihr umfangreiches Werk“ schreibt Brandt tatsächlich „Ihr umfangreiches dichterisches Werk“. Muss man die Jusos entlasten, wenn sie sich auf solch schlecht recherchierte und tendenziöse Angaben verlassen?
Andreas Stuhlmann, Herman Claudius: zwischen Anpassung und Opportunismus, in: Dirk Hempel, Hans-Ulrich Wagner (Hg.), Das literarische Feld in Hamburg 1933-1945, Hamburg 2012, S. 227-246.Claudius heißt mit Vornamen „Hermann“, im Stuhlmann-Aufsatz richtig geschrieben. Trotz einiger Fehler (z.B. falsches Geburtsdatum) argumentiert Stuhlmann wesentlich differenzierter als dieser Antrag. Er spricht von einer „zeit- und milieutypischen Mischung von Anpassung und Opportunismus“ (S. 244) bei Claudius und sieht auch die persönlichen und ökonomischen Kontexte seiner Anpassung, etwa die „unkritische protestantische Frömmigkeit“ (242) sowie die Notwendigkeit, sich „notgedrungen“ (234) auf die Werbung durch die Nazis einzulassen. Von einer bescheidenen Jahrespension von „5.266, 80 RM“ (233) konnten Claudius und seine Familie nicht leben.
https://www.hermann-claudius.de/index.php?menuid=9&reporeid=43&getlang=deWenn der Antragsteller die Seite aufmerksam gelesen hätte, wäre dieser peinliche Antrag zu vermeiden gewesen.
Das „Gelöbnis treuester Gefolgschaft“, dass Claudius im Oktober 1933 unterzeichnet haben sollen findet sich u.a. online hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Gel%C3%B6bnis_treuester_Gefolgschaft#/media/File:Gel%C3%B6bnis_treuester_Gefolgschaft_1933-10-26.jpgvermutlich gemeint: Das „Gelöbnis treuester Gefolgschaft“, das Claudius im Oktober 1933 unterzeichnet haben soll, findet sich u.a. online hier: